Olpe. Öner Ersin aus Olpe sitzt seit seiner Kindheit im Rollstuhl. Doch er leidet mehr unter der Gesellschaft als an seiner Krankheit.
Viele kennen diesen Albtraum. Sie versuchen zu rennen – doch die Beine wollen nicht. Ihr Körper ist angespannt, aber irgendwas lähmt sie. Eine unsichtbare Kraft, die sie festhält. So ähnlich geht es Öner Ersin. Und das jeden Tag. Nur ist es kein Traum. Der Mann sitzt im Rollstuhl. Eine Tetraspastik zwingt ihn dazu. Schon sein ganzes Leben lang. „Ich fühle mich wie ein Leistungssportler“, sagt er. „Wie ein Dauerlauf im Sitzen muss man sich das vorstellen.“ Aber es ist nicht seine Krankheit, über die er reden will. Es ist nicht seine Krankheit, die ihm das Leben so schwer macht – es ist die Gesellschaft. Die Menschen, die ihn anstarren, aber nicht wahrnehmen. Die Verordnungen, Gesetze, Bestimmungen – all das, was geschrieben wurde, ohne auf Persönlichkeiten wie Öner Ersin Rücksicht zu nehmen.
Olpe: Ärzte hatten kaum Hoffnung nach Frühgeburt
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Er kam als Frühchen auf die Welt. Dreieinhalb Monate vor dem Geburtstermin. Das war vor 33 Jahren. Damals war er gerade mal so groß wie eine Gabel. „Meine Haut war so dünn, dass man mein Herz dadurch sehen konnte“, erzählt Öner Ersin. Die Ärzte hatten kaum Hoffnung. Kaum Hoffnung, dass er überlebt. Doch er hatte Glück. „Oder Pech, je nachdem, wie man es sieht“, wirft er ein.
Der junge Mann steht mit seinem Rollstuhl in der Mitte seines Wohnzimmers. Ein paar Bilder hängen an der Wand. Von ihm und seinem Bruder. Ein Fernseher, eine Küche, ein Bett, ein Kleiderschrank – mehr braucht er nicht. Die eigene Wohnung ist Luxus genug – und war ein jahrelanger Kampf. Ein Kampf gegen Vorurteile. Ein Kampf um Anerkennung. „Als Mensch mit Handicap wird man nicht ernst genommen“, sagt er. „Die Dummheit der Gesellschaft ist schwer zu ertragen.“
Olpe: Keine gesetzlichen Betreuer, nur Assistenz für Rollstuhlfahrer Öner Ersin
Seit zweieinhalb Jahren lebt er jetzt in seiner eigenen Wohnung im Zentrum von Olpe. Ganz allein – weil er es kann. Er hat keinen Vormund, keinen gesetzlichen Betreuer – nur einen Assistenten, der ihm hilft. Der Mann vom Team des Ambulant Betreuten Wohnens der Brücke Südwestfalen in Olpe ist heute auch da. Doch er hält sich im Hintergrund – Öner Ersin kann für sich allein sprechen. Warum auch nicht? „Die Menschen suchen erst immer die Kassette, wo die Stimme rauskommt, wenn sie mich treffen“, erzählt er. „Weil die Optik nicht mit dem zusammenpasst, was sie hören. Aber der Körper hat doch nichts mit dem Kopf zu tun.“ Nein, das hat er nicht. Öner Ersin ist der beste Beweis dafür. Ein Mann, der belesen ist. Ein Mann, der die Gesellschaft sieht. So wie sie wirklich ist. Voller Vorurteile. Voller Hürden für Menschen, die nicht in die Norm passen.
Wirtschaftspsychologe – das wäre Öner Ersin gern geworden. Doch sein Weg war vorbestimmt. Hinein in das gesellschaftliche Korsett. Nach der Schule ging es für ihn in die Behindertenwerkstatt, wo er heute noch zweimal die Woche arbeitet – oder auch nicht. Öner Ersin bezeichnet sich als „Deko mit Puls“. Er sei geistig zu fit für diese Arbeit, fühle sich nicht gefordert. Genau das habe ihn krank gemacht. Die Diagnose Burnout kam vor ein paar Jahren. Dieser Kampf, als gleichwertiges Mitglied der Gesellschaft anerkannt zu werden, hat ihm Kraft gekostet. „Ich möchte nicht alt werden in diesem Körper“, sagt er. „Aber wenn ich die Welt verlasse, möchte ich sie für die nächste Generation von Menschen, die so sind wie ich, leichter gestalten.“
Olpe: Öner Ersin wird Rollstuhl nie verlassen können
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Öner Ersin ist kein Pessimist. Natürlich belastet ihn die gesellschaftliche Stigmatisierung. Und auch das Leben mit den Medikamenten gegen die Schmerzen, die ständige Ergotherapie, die Krankengymnastik ist nicht einfach. Aber er sieht sein Handicap auch als Chance. Als notwendiges Übel, um das Leben wirklich wahrzunehmen. Um Kleinigkeiten schätzen zu können. Schmerzfreies Atmen. Ein sonniger Tag, wenn er sein „berufsbedingtes Cabriolet“ rausfahren kann. „Ich bin froh, im Rolli zu sitzen“, sagt der junge Mann. „Sonst wäre ich vielleicht auch so ein arrogantes Arschloch geworden.“
Arrogant ist er nicht. Selbstbewusst dafür schon. Er weiß, dass er mehr ist, als ein Mensch am Rand der Gesellschaft. Er weiß, dass er genauso viel wert ist. Nur die anderen müssen das noch begreifen. Da sitzt er in seinem Rollstuhl in seinem Wohnzimmer in Olpe – und lächelt leicht. Ein blaues Hemd kleidet ihn. Seine schwarzen Lackschuhe sehen aus wie frisch poliert. Die Frisur sitzt. Alltagsoutfit im Hause Ersin. „Ich mag meinen Stil“, sagt er. „Behindert sein reicht, da muss man nicht auch noch scheiße aussehen.“ Es ist kein Albtraum, aus dem er irgendwann aufwachen kann. Seinen Rollstuhl wird er nie verlassen können. Aber er wird kämpfen. Für Achtung und Respekt vor Menschen wie ihm. Für ein kleines bisschen weniger Schubladen-Denken.