Sundern. Neun Jahre kämpft diese Familie um Integration - lernt Sprache und Beruf. Auf Euphorie nach dem Sturz Assads in Syrien folgt die ernste Realität.

Latakia sei in ihrem Herzen, sagt Tamara Shhadi. Ihre Heimat - die syrische Hafenstadt direkt am Mittelmeer. Seit fast neun Jahren war sie nicht dort, floh Anfang 2016 mit ihrer Familie nach Deutschland - gemeinsam mit ihren Eltern und vier ihrer Geschwister. „Zwei meiner Brüder sind bereits im September 2015 nach Deutschland gekommen“, sagt die 36-Jährige. Ihr heutiger Ex-Ehemann, ein Soldat, kam etwa eine Woche später nach. „Wir lebten alle zusammen in einer großen Wohnung in Westenfeld - meine fünf Brüder, eine Schwester, Mama, Baba, mein Ex-Mann und ich.“ Inzwischen lebt sie mit ihrem achtjährigen Sohn Ahmad alleine in einer Wohnung in Sundern, ist alleinerziehend und berufstätig.

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Als sie vom Sturz des Assad-Regimes am 8. Dezember erfährt, siegt die Freude. „Wir haben uns alle gefreut“, sagt sie, „und ja, auch haben wir darüber nachgedacht und gesprochen, zurückzukehren. Gleichzeitig waren wir geschockt darüber, die Leute zu sehen, die 14 Jahre lang im Gefängnis waren - Männer, Frauen und auch Kinder!“ Auf die anfängliche Euphorie folgt schnell die ernste Realität: Es sei ihr Heimatland; aber bisher gebe es keine Sicherheit. „Wir wissen nicht, wie es sich entwickeln wird.“

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Zehnköpfige syrische Familie lebt sich in Sundern ein

Außerdem, so sagt sie, würde sie ihrem Sohn dann „seine Heimat“ nehmen. „Er ist in Deutschland geboren - geht zur Schule, hat Freunde. Er versteht und spricht Arabisch, aber schreiben kann er es nicht. Er müsste dort dann mit neun oder zehn Jahren in die Grundschule gehen.“ Absolut neu starten - ebenso wie sie und ihre Familie. Denn mittlerweile haben sich alle eingelebt und integriert. Keiner von ihnen lebt von Bürgergeld - alle tun etwas. „Viele Menschen haben uns dabei unterstützt“, so Shhadi, „In Syrien müssten wir komplett neu starten!“ Sie ist in Deutschland integriert, fühlt sich wohl und möchte bleiben - hat zudem die Deutsche Staatsbürgerschaft.

Kurz nach ihrer Ankunft damals in Deutschland, so erzählt sie, sei sie schwanger geworden. „In Syrien hatte ich fünf Jahre Psychologie studiert - und wollte gerne noch meinen Master machen.“ Sie begann mit dem Deutschlernen, autodidaktisch, zu Hause. „Als mein Sohn da war, habe ich auch für kurze Zeit einen VHS-Kurs belegt“, sagt sie, „aber das wurde mir mit dem Kind zu viel.“ Also lernte sie zu Hause die Sprache. Mit Youtube, Büchern und CDs. „Viele Frauen aus Westenfeld haben wir geholfen, haben immer Deutsch mit mir gesprochen.“

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Ihre B1-Prüfung legte sie beim Internationalen Bund in Hüsten ab - und bestand. „B1“ bezeichnet eines der Sprachniveaus gemäß europäischem Referenzrahmen zum Sprachenlernen und beinhaltet, dass der Lernende sich in einfachen Unterhaltungen frei äußern und den ein oder anderen Brief verfassen kann. Doch Tamara Shhadi wollte mehr. „Mein Studium der Psychologie in Syrien wurde in Deutschland anerkannt. Um meinen Master zu machen, benötigte ich daher das Sprachniveau C1.“

Familie erhält Deutsche Staatsbürgerschaft - bis auf die Eltern

Dazwischen lag die B2-Prüfung. „Ich habe mir einen Dreimonatslernplan gemacht“, sagt sie und lacht, „Meine Mama hat für uns gekocht, geputzt - einfach alles gemacht, damit ich lernen konnte.“ Mit Erfolg - sie bestand die Prüfung und startete direkt mit einem Onlinesprachkurs für das C1-Sprachniveau. „Die Prüfung habe ich damals in Soest gemacht - und bestanden.“ Die Deutsche Staatsbürgerschaft haben Tamara und ihre Geschwister ebenfalls erreicht.

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Damit stand nur noch eine Frage im Raum: „Was kann ich mit meinem Studium arbeiten?“ Inzwischen hatte sie bereits ein Jahr lang als Aushilfe in der OGS der Langscheider Grundschule gearbeitet und ein Praktikum von eineinhalb Monaten in der Arnsberger Erziehungsberatungsstelle des SkF (Sozialdienst katholischer Frauen) absolviert. Letztlich bekam sie ihre Chance: „Ich konnte in der SkF-Familienhilfe anfangen“, so Shhadi, „Ich arbeite jetzt seit etwa zweieinhalb Jahren mit Familien in Arnsberg/Sundern und minderjährigen allein eingereisten Geflüchteten.“ Aufgrund ihrer Sprachkenntnisse habe sie viel mit arabischsprachigen Menschen zu tun. „Ich habe selbst erlebt, was Flucht bedeutet“, sagt sie, „Wenn ich jetzt helfen kann, gibt mir das ein gutes Gefühl.“

„Ich arbeite jetzt seit etwa zweieinhalb Jahren mit Familien in Arnsberg/Sundern und minderjährigen allein eingereisten Geflüchteten. Ich habe selbst erlebt, was Flucht bedeutet, wenn ich jetzt helfen kann, gibt mir das ein gutes Gefühl.““

Tamara Shhadi

Und auch ihre Geschwister haben in den letzten neun Jahren nicht tatenlos herumgesessen. Ihr Bruder Ahmad (34) habe seinen Master in Elektrotechnik in Deutschland gemacht und arbeite als stellvertretender Abteilungsleiter. Mohamad (26) sei inzwischen verheiratet und habe eine Ausbildung im Bereich Stanz- und Umformmechaniker gemacht und arbeite aktuell auch in diesem Job. Tamer (24) studiere Bauingenieur und stecke gerade mitten in seiner Bachelorarbeit. Nebenbei habe er einen Minijob. Mustafa (22) habe eine Ausbildung absolviert, arbeite und gehe in die Abendschule. „Er macht sein Abitur, damit er studieren kann“, sagt Tamara Shhadi. Der Jüngste, Samir (19) sei ebenfalls Bauingeneur-Student. Ayat, ihre 30-jährige Schwester, habe Medizintechnik studiert und stecke aktuell mitten in ihrem Master.

Zurück nach Syrien oder nicht?

„Ahmad hat zwei Häuser gekauft“, erzählt Shhadi weiter, „In einem Haus leben unsere Eltern, das andere Haus soll vermietet werden.“ Ihr Baba, wie sie ihren Vater Khaled Shhadi liebevoll nennt, ist 62 Jahre alt und arbeitet seit vier Jahren bei Heuel und Söhne in Stemel. „Er hat einen unbefristeten Vertrag. In Syrien hat er 13 Jahre lang die Leitung ‚aufm Bau‘ gehabt.“ Mutter Laila Farosy ist 60 Jahre alt und unterstützt ihre Tochter Tamara wo es nur geht. „Ich habe dreieinhalb Jahre einen Minijob in einer türkischen Firma gemacht“, sagt sie. „In Syrien war ich 35 Jahre Schneiderin.“

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Doch genau die beiden sind es, die am ehesten gerne zurück in ihre Heimat Syrien gehen würden, meint Tamara Shhadi, sie selbst würde dann gerne mal Urlaub dort machen. „Heimat, Heimat“, sagt Mutter Laila Farosy. Tamara Shhadi erklärt: „Wenn unsere Eltern wirklich nach Syrien zurück wollen, muss mindestens einer von uns mitgehen. Denn dort gibt es keine ‚Altenpflegeheime‘ oder sowas - dort werden die älteren Menschen von ihren Familien betreut. Alleine können sie in Syrien nicht leben.“ Ob die Diskussion, wer nun sein Leben in Deutschland aufgibt, entfachen wird, hängt also davon ab, wie sich Laila Farosy und ihr Mann Khaled Shhadi entscheiden werden. Aber auch davon, wie sich die politische Situation in Deutschland entwickeln wird, ergänzt Shhadi. „Meine Eltern haben lediglich einen Aufenthaltsstatus. Sie haben die B1 Sprachprüfung nicht geschafft. Sie haben ‚nur‘ A2.“ Das ist jedoch Voraussetzung für die Beantragung der Deutschen Staatsbürgerschaft.