Winterberg/Elkeringhausen. Krisen überall - was bedeutet das für unsere Gesellschaft? Jürgen Wiebicke, Autor und WDR-5-Moderator, gibt in Winterberg Empfehlung zum Umgang.

Wie vermeidet man, dass globale Krisen zu persönlichen Krisen werden? „Handelt! Macht etwas für diese Gesellschaft, gern im Kleinen, dann dürft ihr auch berechtigt hoffen!“, lässt sich zusammenfassen, was Jürgen Wiebicke, bekannt unter anderem vom „Philosophischen Radio“ bei WDR 5, dem Publikum bei „Buch im Zelt 2024“ mitgab.

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Der Autor der jüngst erschienenen Bücher „Erste Hilfe für Demokratie-Retter“ und „Emotionale Gleichgewichtstörung“ spitzte es bezogen auf den Ort seiner Lesung in der Zeltkirche Elkeringhausen zu: „Pessimismus hätte zu den Todsünden aufgenommen werden sollen!“ Er beschrieb im Interview mit der heimischen Theologin Elisabeth Hoffmann-Weber dieses aktuelle Gefühl, dass wir in unseren Lebzeiten nur noch Krisen erleben können. „Wir knicken ein, obwohl noch gar nichts passiert ist und wir im Wohlstand leben. Dann können wir nichts mehr gestalten, dann sind wir in der Opferperspektive. Seit der Finanzkrise 2008 gibt es eine Krise nach der anderen, mittlerweile sprechen wir von multiple Krisen. Noch dazu ist Pessimismus hochgradig ansteckend!“ Die emotionale Gleichgewichtsstörung sei keine Diagnose, sondern eine Beschreibung für die Lage in unserem Land. „Ich ermuntere dazu, sich nicht in der Biografie treiben zu lassen, sondern sich bewusst zu sein, dass ich sie selbst gestalten kann. Und sich gleichzeitig zu verpflichten, andere zu schonen, wenn die eigene Verzweiflung gerade für sie zu viel wird. Wenn die Zuversicht kollektiv flöten geht, haben wir gemeinsam ein Problem.“

„Wir sollten uns als Nichtwissende begegnen“

Jürgen Wiebicke leitet seine Schlüsse ab, indem er Philosophen und Autoren zurate zieht und Menschen beobachtet. Immer wieder las er passend zu den Themenbereichen aus einem seiner beiden aktuellen Werke. Seine Einschätzung: „Ich glaube, es gehört zu unserer Zeit, in so einer Art Zwischenzeit zu sein, in einer Kulturwende. Digitalisierung als völlig neue Kulturtechnik wälzt alles um, dabei sucht man Sicherheit.“

„Lieber kollektiv klug werden als alleine Klugscheißer sein!“

Jürgen Wiebicke 

„Wann hast Du eigentlich in den vergangenen Jahren in einer wichtigen Frage eine Meinung geändert?“, fragte ihn eine Freundin. „Zum Glück fiel mir etwas ein!“ Wiebicke empfiehlt: Wir sollten uns mehr als Nichtwissende begegnen. „Wissen ist wie eine große Kugel in einem Meer von Unwissenheit. Jedes Mal, wenn neues Wissen hinzukommt, wächst die Kugel, aber auch das Unwissen“, zitierte er Blaise Pascal, Mathematiker und Philosoph im 17. Jahrhundert. „Es kommen immer neue Anfänge. Wenn die lokale Politik keine gute Lösung findet, vielleicht sollte man mal die Produktivität von Nichtwissenden an den Tisch holen.“ Da wären wir auch bei Kant und dem vernünftigen Handeln. „Er sagt: Nur wer das Nötige getan hat, darf auch hoffen!“ Weitere Impulsgebende, die Wiebicke einfließen ließ: Hannah Arendt (20. Jahrhundert) oder Michelle de Montaigne (16. Jahrhundert). Seine Meinung: „Wenn man das Leben nur aufs Berufs- und Privatleben konzentriert, dann fehlt etwas, dann verpasst man etwas. Wer gute Orte vor Ort im Kleinen schafft, der handelt politisch, der macht Politik!“

Radio-Moderator, Autor und Philosoph Jürgen Wiebicke in der Zeltkirche Winterberg-Elkeringhausen bei
Radio-Moderator, Autor und Philosoph Jürgen Wiebicke in der Zeltkirche Winterberg-Elkeringhausen bei "Buch im Zelt".  © WP | Sonja Funke

Ins Handeln kommen und Demokratie bewahren

Irgendwie klingt es einfach. Nichtwissen akzeptieren, klare Haltung für eine freie Gesellschaft einnehmen, sich engagieren als „Politiker im Kleinen“, im Kirchenvorstand, im Verein, in Parteien oder ganz woanders. Er habe die Bedeutung von Emotionalität für die politische Urteilskraft lange unterschätzt, sagt der Radiomoderator, der im Dienste der Demokratie auch in Schulen unterwegs ist. „Angst, Wut und Hass finden ihr Ventil in der Wahlkampfkabine.“ Und wieder landet er beim Handeln. „Wir sollten nicht in der Angst versacken, sondern die freiheitlichen Möglichkeiten nutzen, die wir in dieser Gesellschaft, übrigens in der für mich besten, die wir je hatten, doch immer noch haben!“ Das bedeutet für ihn, auch der Urteilskraft anderer zu vertrauen, in die Diskussion zu gehen. „Es gibt einen Unterschied zwischen Gegnern und Feinden. Wenn Feindeserklärungen im Raum sind, stehen die, die eigentlich Gegner sind, zusammen und sagen: Wir wollen solche Stile nicht!“

„Doch wer erklärt uns die Zeitenwende?“, kommt es aus dem Publikum. Antwort ist ein beherztes: „Wir alle! Lieber kollektiv klug werden als alleine Klugscheißer sein!“ Eine Dame bringt beseelt ein: „Sie gehen als Rheinländer mit einer Gelassenheit da rein, da gehe ich zuversichtlich nach Hause. Ich bin ihnen unendlich dankbar!“ Das aber lässt Jürgen Wiebicke nicht so stehen: „Wir können uns alle in Zuversicht trainieren, das hat nichts mit Temperament zu tun!“ Eine volle Zeltkirche und Besucher, die mit einem Kopf voller Gedanken nach Hause gehen. Die Vorfreude auf die Lesung im nächsten Zeltkirchen Jahr ist groß.