Arnsberg/Brilon. Gerichtsverhandlung am Landgericht nach blutiger Messerattacke: Versuchter Totschlag wirft dunklen Schatten auf das Stadtidyll
Totschlagprozess am Landgericht Arnsberg: Seit dem vergangenen Donnerstagmorgen (13. Juni) verhandelt eine Schwurgerichtskammer unter dem Vorsitzenden Richter Petja Pagel über das Schicksal eines 62-jährigen Ukrainers. Dem Angeklagten wirft die Staatsanwaltschaft versuchten Totschlag in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung vor. So soll der Mann, laut Anklagevertreter Gregor Keller, am 30. Dezember vergangenen Jahres einen 59-Jährigen in seiner Wohnung in der Möhnestraße in Brilon mit mehreren Messerstichen schwer verletzt haben. Der Schwurgerichtsprozess wirft dabei direkt am ersten Verhandlungstag einen schockierenden Blick auf die Abgründe der Briloner Trinkerszene. Der angeklagte Ukrainer wird von einem Justizwachtmeister zu Anklagebank geführt.
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Tiefe Stichwunde in der Nähe des Herzens
So richtig zutrauen möchte man die blutige Tat dem gerade mal 1,60 Meter großen Angeklagten nicht. Als er von den Justizvollzugsbeamten in den Gerichtssaal geführt wird, blickt er mit sanftem Gesichtsausdruck auf die Zuschauerbänke und grüßt freundlich. Doch die Vorwürfe wiegen schwer. So soll er in einem Wohnhaus in Brilon einen polnischen Bekannten und ehemaligen Zimmergenosse mehrfach mit einem Messer so schwer verletzt haben, dass dieser in Lebensgefahr schwebte und notoperiert werden musste. Unter anderem brachte der Angeklagte, laut Staatsanwalt Keller, dem Opfer eine zwölf Zentimeter tiefe Stichwunde bei, die das Herz nur ganz knapp verfehlte.
Ruhig hört sich der Ukrainer, unterstützt von einer Dolmetscherin und seinem Rechtsanwalt Dietmar Reuther, die Ausführungen an, ehe er sich dann selbst ausführlich zu den Vorwürfen äußert. Bereits seit 2022 lebt er in Brilon. „Ich war sehr dankbar, dass ich hier aufgenommen wurde“, sagt er. In seiner Unterkunft in der Möhnestraße sind viele Flüchtlinge aus den unterschiedlichsten Ländern untergebracht. Irgendwann sei er dann seinem späteren Opfer, einem Polen begegnet, der eine Etage über ihm wohnte. Und obwohl der Angeklagte bereits in der Einzimmer-Wohnung mit einem inzwischen verstorbenen Bewohner lebte, habe er dem Polen angeboten, auch bei ihm zu übernachten. „Wir hatten zwei Betten und er hat dann auf einer Matratze geschlafen“, sagt er. Dass die stets klammen Bürgergeldempfänger viel und regelmäßig Alkohol tranken, gibt nicht nur der Angeklagte zu, sondern wird auch später von vielen Zeugenaussagen bestätigt. Bier, Wein, Wodka. In der Männer-WG wurde regelmäßig gezecht. Ein Zeuge: „Die trinken gerne beide und waren ständig besoffen“, sagt er.
Regelmäßig besoffen
Als das Opfer am 30. Dezember von Ersthelfern versorgt wird, müssen die beiden Zeugen den lebensgefährlich Verletzten davon abhalten, aus einer Flasche Wodka zu trinken. Auch der Angeklagte ist bei seiner Verhaftung am Silvestertag 2023 schwerst alkoholisiert - fast drei Promille weisen die beiden Blutproben auf, die die ermittelnden Beamten bei dem Festgenommenen veranlassen. Eine Betreuerin der Stadt Brilon und ein weiterer Zeuge bestätigen im Zeugenstand, dass beide - Täter und Opfer - regelmäßig besoffen gewesen seien. Doch mit so einer Tat hätten sie niemals gerechnet.
„Jetzt denke ich aber, dass es besser gewesen wäre, wenn er mich umgebracht hätte. Dann wäre ich jetzt nicht im Gefängnis.“
Irgendwann sei er genervt von seinem Mitbewohner gewesen, sagt der Ukrainer und zählt diverse Vorwürfe auf. „Er ist auch oft frech geworden“, ergänzt er. Einen Tag vor der Tat habe er ihn schließlich hinausgeworfen. Doch am 30. Dezember habe der Mann an die Tür geklopft und habe seine Ausweispapiere verlangt. Als er dem Angeklagten schließlich den Rücken zuwendete, habe dieser ihn von hinten am Hals gepackt. Er habe große Angst gehabt und niemals mit einem solchen Angriff gerechnet, sagt er. „Hatten sie Angst zu ersticken?“, fragt Richter Pagel. Der Angeklagte, der laut eigener Aussage auch Asthmatiker ist, nickt mit dem Kopf. „Jetzt denke ich aber, dass es besser gewesen wäre, wenn er mich umgebracht hätte. Dann wäre ich jetzt nicht im Gefängnis“, lässt er seine Dolmetscherin erklären. In Panik habe er dann nach einem Messer auf einem Tisch gegriffen und mit seiner rechten Hand links über seine Schulter auf seinen Kontrahenten eingestochen. Ob sich diese Aussagen sich auch mit dem Verletzungsbild des Opfers und Aussagen von Zeugen decken, die nach der Tat mit dem Angeklagten sprachen, wird die Schwurgerichtskammer noch bewerten.
Bier und Wein am Morgen
„Wie viel hatten sie denn am Abend vor der Tat getrunken?“, fragt Richter Pagel den Angeklagten. Konzentriert hört dieser sich die Übersetzungen der Dolmetscherin an und überlegt kurz. Angeklagter: „So zwei Flaschen Wein und etwas Bier.“ Pagel: „Und was haben sie am Morgen der Tat getrunken?“ Angeklagter: „Eine Dose Bier und eine Flasche Wein.“
Als schließlich das Opfer den Zeugenstand betritt, wird deutlich, dass der Mann körperlich und geistig schwer angegriffen ist. An die Tat könne er sich absolut nicht erinnern. Immer wieder sei er vergesslich. Er habe Alpträume und müsse Tabletten nehmen. Seit Dezember habe er aber keinen Tropfen Alkohol mehr getrunken.
Als er sich von seinem Platz erhebt, wendet er sich noch einmal überraschend an seinen ehemaligen Mitbewohner: „Warum? Warum hast du mich nicht einfach weggestoßen?“, fragt er. Der Prozess wird am kommenden Freitag (14. Juni) fortgesetzt. Möglicherweise fällt dann schon ein Urteil.