Hochsauerlandkreis. Eine Umfrage unter Schulleitungen zeigt: Aktuelle Lerninhalte sind nicht zeitgemäß. Schulleiter aus Brilon und Olsberg über nötige Veränderungen.
Ist der Stundenplan in den Schulen nicht mehr zeitgemäß? Eine Umfrage des Berliner Forschungsinstitut für Bildungs- und Sozialfragen, das mehrere Schulleitungen befragt hat, kommt zu diesem Ergebnis. Zahlreiche Leitungen sprechen von veralteten Strukturen und dem Wunsch nach neuen Lernformen und -inhalten. Wie positionieren sich die Schulleitungen im Hochsauerlandkreis? Drei von ihnen antworten auf dieselben Fragen der WP-Brilon in unabhängigen Stellungnahmen.
82 Prozent der Schulleitungen sprechen sich in der genannten Befragung dafür aus, die Stundenpläne sowie den Fächerkanon umzukrempeln. Dieser sei „nicht mehr zeitgemäß“. Teilen Sie diese Meinung?
Franz-Josef Killing, Berufskolleg Brilon: Die Einführung neuer Strukturen für eine neue Kultur des Lernens nur auf die Neustrukturierung des Fächerkanons zur reduzieren ist lediglich ein Teilaspekt, der für sich genommen nicht ausreicht, Lernen und Bildung neu zu strukturieren. Die Probleme des deutschen Bildungssystems sind vielschichtiger.
Johannes Droste, Gymnasium Petrinum: Erfahrungsgemäß bergen Formulierungen wie „grundsätzliche Überarbeitung“ bisweilen das Risiko, dass – um es salopp zu formulieren – manchmal „das Kind mit dem Bade“ ausgeschüttet wird. Eine verantwortungsbewusste, umsichtige Überarbeitung, die einerseits nicht pauschal das Vorhandene verurteilt, andererseits aber den sich zum Teil rasant verändernden Rahmenbedingungen angemessen Rechnung zu tragen versucht, ist sicherlich begrüßenswert.
Was müsste Ihrer Meinung nach überarbeitet werden? Welche Themen fehlen, welche Fächer sind wichtig?
Franz-Josef Killing: Fächerübergreifender Unterricht bzw. weitgehend vernetzter Fachunterricht in Einklang mit interessengeleitenden Lernen zu bringen, hört sich auf den ersten Blick sehr gut an. Es bedeutet aber auch, Unterricht grundlegend anders zu strukturieren, was sowohl die Stundenplanung als auch die Zusammenarbeit der Kollegen*innen betrifft. Es müssen dafür andere Formen des Unterrichtens entwickelt werden.
Michael Aufmkolk, Sekundarschule Olsberg: Zwar ist für die Klassen 5 und 6 nun das Fach Informatik an Sekundarschulen eingeführt worden. Ein Fach „Medienkunde“ ist aber in jedem Jahrgang wünschenswert.
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89 Prozent der Befragten halten die sogenannte gebundene Ganztagsschule für das Modell der Zukunft. 82 Prozent finden, es könne ganz wesentlich zur Chancengerechtigkeit beitragen. Bei diesem Konzept bleiben alle Schüler an mindestens drei Wochentagen bis zum Nachmittag gemeinsam in der Schule. Lern-, Spiel- und Erholungsphasen wechseln sich ab. Wie bewerten Sie dieses Modell?
Johannes Droste: Auch hier gilt: Augenmaß ist ein guter Ratgeber. Nicht alle Modelle, die sich in urbanen Umfeldern problemlos umsetzen lassen, sind auch für ländliche Bereiche sinnvoll und problemlos realisierbar.
Michael Aufmkolk: Sekundarschulen sind Ganztagsschulen. Wir praktizieren den Ganztag erfolgreich, obwohl auf dem Land die Kooperation mit außerschulischen Partnern schwierig ist. Ob der Ganztag wirklich für mehr Chancengleichheit sorgt, muss empirisch erforscht werden. In Ansätzen schon.
Franz-Josef Killing: Das Modell der gebundenen Ganztagsschule auf die Schulform Berufskolleg zu übertragen könnte – zumindest in Teilbereichen – ein interessanter Ansatzpunkt sein. Das komplexe System Berufskolleg, in dem alle Schulabschlüsse erworben werden können, muss angesichts der Vielzahl der Bildungsgänge vor dem Hintergrund der Ganztagsschule differenziert betrachtet werden. Vorstellbar wäre eine Übertragung dieses Modells sicherlich auf die Vollzeitbildungsgänge, sofern zusätzliche Unterstützungs- und Betreuungsangebote geschaffen werden, die sowohl der Vor- und Nachbereitung des Unterrichts dienen als auch zusätzliche Lernangebote umfassen. Notwendig dazu sind meiner Meinung nach multiprofessionelle Teams, die die Vielzahl der Unterstützungs- und Betreuungsangebote abdecken können.
Schulen müssen Chancengleichheit ermöglichen: Fast alle befragten Schulleitungen vertreten diese Ansicht. 92 Prozent setzen dafür auf individuelle Förderangebote, um allen Schülerinnen und Schülern gerecht zu werden. 93 Prozent wünschen sich außerdem, dass im Unterricht mehr Lebenskompetenzen vermittelt werden. Wie versuchen Sie an Ihrer Schule, Chancengleichheit zu ermöglichen?
Johannes Droste: In erster Linie hat sich der Unterricht an unserer Schule – auch durch ein großes Maß an didaktisch-methodischer Arbeit des Kollegiums – in Anlage und Durchführung erheblich verändert: Individualisierung von Lernprozessen im Sinne eines kompetenzorientierten Unterrichts, Fördermodule für einzelne Schüler, Schülergruppen oder ganze Klassen, deutlich ausgeweitete Nutzung digitaler Medien und Unterrichtsmethoden, Wettbewerbe sind nur einige der Bausteine, die Chancengleichheit gewährleisten. Die Einbeziehung digitaler und ökonomischer Kompetenzen ist bereits in den letzten Jahren und insbesondere durch die (Wieder-)Einführung der neunjährigen Gymnasialzeit (G9) mit ihren neuen Stundentafeln deutlich verstärkt worden. Im Übrigen ist das Bild falsch, wenn behauptet wird, dass diese Kompetenzen vorher in Schule und Unterricht keinerlei Rolle gespielt hätten.
Franz-Josef Killing: Chancengleichheit bieten wir unseren Schülern*innen auf unterschiedliche Weise. Stichworte in diesem Zusammenhang sind: Schulsozialarbeit, individuelle Förderung, finanzielle und materielle Unterstützung bei Klassenfahrten oder der Anschaffung von digitalen Endgeräten.
Welche Lebenskompetenzen sollten im Schulunterricht eingebunden werden?
Franz-Josef Killing: Für das Berufskolleg ist bereits in den Bildungsplänen festgelegt, dass „… den Schülerinnen und Schülern eine umfassende berufliche, gesellschaftliche und personale Handlungskompetenz (vermittelt wird) … (dass) sie auf ein lebensbegleitendes Lernen vor (-bereitet werden sollen). Es qualifiziert die Schülerinnen und Schüler, an zunehmend international geprägten Entwicklungen in Wirtschaft und Gesellschaft teilzunehmen und diese aktiv mitzugestalten.“ Die Vermittlung der angesprochenen Lebenskompetenzen erfolgt am Berufskolleg sowohl im Unterricht als auch durch eine Vielzahl von Angeboten, z. B. regelmäßige Beratungsangebote der Bundesagentur für Arbeit oder Projekten sowie durch den engen Kontakt zu den regionalen Ausbildungsunternehmen.
Michael Aufmkolk: In dem Fach Medienkunde wäre für mich ein wichtiger Bereich, eine Lebenskompetenz, der Umgang mit der digitalen Finanz- und Versicherungswelt.
Die Umfrage zeigt, dass Schulleitungen zwar gerne alte Strukturen aufbrechen möchten, neben dem hohen Verwaltungsaufwand und dem Krisenmanagement der letzten Jahre kaum Zeit dazu haben. Geht es Ihnen ähnlich? Was braucht es, um neue Strukturen und Lernweisen auf den Weg zu bringen?
Franz-Josef Killing: Der relativ hohe Verwaltungsaufwand sowie insbesondere das Krisenmanagement der letzten Jahre sind wesentliche Zeitfaktoren, die Veränderungsprozesse erschweren. Um langfristige strukturelle Veränderungen auf den Weg zu bringen, bedarf es aber auch seitens der Schulpolitik ein höheres Maß an Konstanz und Verlässlichkeit, nicht nur auf einzelne Wahlperioden hinaus.
Johannes Droste: Die Herausforderungen für Schulleitungen haben sich allein in den letzten Jahren gewaltig gesteigert. Die Zahl der grundlegenden Veränderungen und Herausforderungen, die die Schulen umzusetzen bzw. denen sie sich zu stellen hatten, war aus meiner Sicht nie so groß wie im letzten Jahrzehnt: Inklusion, Einführung von G8, (Wieder-)Einführung von G9, Ganztag, Flüchtlingskrise 2015 mit ihren Folgen, seit zwei Jahren die dramatischen Auswirkungen der Coronapandemie – um nur einige zu nennen – haben insbesondere bei Schulleitungen für enorm hohe Belastungen gesorgt, denen nur schwer standzuhalten ist. Da noch genügend Zeit für Schul- und Unterrichtsentwicklung zu finden, ist nicht ganz einfach.
Michael Aufmkolk: Genau: Mehr Geld, mehr Personal, mehr Zeit, mehr eindeutige Strukturen.
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