Berlin. ADHS-Videos sind in sozialen Medien sehr beliebt. Ein Psychologe spricht über ihren Einfluss auf Diagnosen und über Fehlinformationen.
Derzeit erfreuen sich Videos mit Titeln wie „Fünf Anzeichen für ADHS“, „Wie es ist, ADHS zu haben“ oder „Unterschiede zwischen Menschen mit und ohne ADHS“ auf Tiktok und Instagram großer Beliebtheit. In den sozialen Medien gibt es zahlreiche Accounts, die sich intensiv mit der Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung, kurz ADHS, beschäftigen.
Ein Experte auf diesem Gebiet ist Johannes Streif, Psychologe und stellvertretender Vorsitzender des Selbsthilfe-Dachverbandes ADHS Deutschland. Bei ihm wurde Mitte der 90er Jahre die ADHS diagnostiziert – als einem der ersten Erwachsenen in Deutschland. Im Interview spricht Streif über die Hintergründe der aktuellen medialen Aufmerksamkeit für die ADHS und den Umgang mit dieser Störung in sozialen Netzwerken.
Warum ist das Thema „ADHS“ in den sozialen Netzwerken gerade so präsent?
Johannes Streif: Die ADHS erhält momentan generell viel Aufmerksamkeit. Zum Teil kommt das durch Reportagen und Dokumentationen wie „Hirschhausen und ADHS“. Die gestiegene Bekanntheit lässt sich teilweise aber auch dadurch erklären, dass zunehmend Menschen persönliche Berührungspunkte mit der Diagnose ADHS haben. Außerdem trägt die Debatte um Neurodiversität in sozialen Netzwerken zur verstärkten gesellschaftlichen Aufmerksamkeit bei.
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Nehmen soziale Medien Einfluss auf die Diagnosen, insbesondere von Erwachsenen?
Streif: Der Einfluss von sozialen Netzwerken auf ADHS-Diagnosen ist momentan schwer wissenschaftlich zu belegen. Dafür ist der Trend noch zu jung. Dennoch erwarte ich in den kommenden Jahren, aber auch rückblickend ab 2020, einen Anstieg der ADHS-Diagnosen beobachten zu können – möglicherweise auch durch den „Corona-Effekt“, der aufkam, als die Menschen über längere Zeit gezwungen waren, in kleinen Gemeinschaften wie der Familie miteinander auszukommen.
Hinzu kommt die allgemein gestiegene gesellschaftliche Auseinandersetzung mit psychiatrischen Erkrankungen. Diese führte in den vergangenen Jahren dazu, dass mehr Menschen Fachärzte aufsuchten und sich haben diagnostizieren lassen. Das wird sich sicherlich auch in entsprechenden Statistiken niederschlagen.
Psychologe erklärt: Wann eine Diagnose sinnvoll ist
Wenn Social Media den Verdacht in einem weckt, eine ADHS zu haben, wie sollte man sich dann am besten verhalten?
Streif: Bei Schwierigkeiten am Arbeitsplatz oder in der Partnerschaft kann es sinnvoll sein, einen Facharzt aufzusuchen und sich untersuchen zu lassen. Mit einer Diagnose erhält man oft Zugang zu Ressourcen wie Medikamenten oder Therapien. Ohne Probleme sollte man jedoch die Notwendigkeit einer Diagnose hinterfragen und die ADHS nicht als pauschale Erklärung für das Scheitern an alltäglichen Herausforderungen verwenden.
Wie wichtig sind die sozialen Netzwerke für die Aufklärung zum Thema „ADHS“?
Streif: Die Informationsquellen haben sich verlagert und die sozialen Netzwerke spielen eine wichtige Rolle bei der Aufklärung über die ADHS. Dennoch besteht die Gefahr einer einseitigen oder falschen Darstellung, was mittel- und langfristig auch nicht im Interesse der Betroffenen ist.
Statt in die Schublade einer Störung, wie dies früher oft der Fall war, werden Menschen mit einer ADHS heute mehr und mehr in die Schublade von egozentrischen Individualisten gesteckt, die ihr Handeln mit ihrer Neurodiversität erklären. Das finde ich schwierig.
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Sie sehen in sozialen Netzwerken also eine Gefahr für eine weitere Stigmatisierung von ADHS?
Streif: Ja. Das individuelle Leben und Leiden der Betroffenen wird zu stark verallgemeinert. Manche haben nur in bestimmten Situationen Schwierigkeiten, kommen aber im Leben gut zurecht. Andere sind durch die ADHS stärker eingeschränkt und möglicherweise stärker gefährdet, problematische Lebenswege einzuschlagen.
Ein gutes Beispiel dafür ist der Drogensüchtige in der Hirschhausen-Doku, der am Ende im Gefängnis landet. Man tut diesen Menschen unrecht, wenn man die ADHS und ihre Folgen nur als eine unproblematische Variante des Daseins deklariert.
Psychologe hält Studie zu Falschinformationen auf Tiktok für „zu scharf“
Laut einer kanadischen Studie enthalten mehr als 50 Prozent der Tiktok-Videos, die sich mit der ADHS befassen, Falschinformationen – wie ordnen Sie diese Studie ein?
Streif: Als Grundlage für diese Beobachtung nutzte die Studie die Manuale der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und der American Psychological Association – Handbücher für die Diagnose von der ADHS, die allerdings bis heute noch stark auf den klassischen Kinderdiagnosekriterien aufbauen.
Manches von dem, was in den Manualen als Symptome der ADHS beschrieben wird, manifestiert sich im Erwachsenenalter in Verhaltensweisen, wie sie in vielen der TikTok-Videos gezeigt werden. Da diese Verhaltensweisen jedoch von den offiziellen Symptombeschreibungen abweichen, wurden die Inhalte zahlreicher Videos als falsch eingestuft, obwohl sie das eigentlich nicht sind. Deshalb trennt die Studie, aus meiner Sicht, ein bisschen zu scharf.
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Das heißt aber nicht, dass es keine Falschinformationen über die ADHS in sozialen Netzwerken gibt, oder?
Streif: Oft teilen dort Menschen ihre persönliche ADHS-Geschichte und ihr Wissen zum Thema, die selbst erst seit kurzem eine Diagnose haben. Ich halte es für gefährlich, wenn sie sich dort als Experten darstellen und erzählen, woran man die ADHS erkennt und wie man sie behandelt.
Welche Quellen eignen sich besser, wenn man sich über ADHS informieren möchte?
Streif: Wenn Tiktok oder andere soziale Netzwerke einen auf die ADHS aufmerksam machen, bieten Bücher von anerkannten Fachleuten, die sich an Betroffene und Angehörige richten, eine gute Möglichkeit, tiefer in das Thema einzusteigen. Außerdem gibt es verlässliche Informationen von qualifizierten Stellen im Internet. Dazu zählen die Seiten des Bundesgesundheitsministeriums oder des Zentralen ADHS-Netzes, aber auch die Veröffentlichungen der ADHS-Selbsthilfe, die unter anderem auf der Internetseite des Vereins ADHS Deutschland zu finden sind.
Hilfreich ist auch der Besuch einer der zahlreichen Selbsthilfegruppen für Eltern oder Betroffene im Verein ADHS Deutschland. Sie werden von eigens geschulten Gruppenleitern angeboten, sind kostenlos und stehen allen offen, auch ohne Diagnose. Im Austausch mit anderen erhält man nicht nur viele Informationen zum Störungsbild, sondern oft auch Tipps, welche Hilfen in der jeweiligen Region angeboten werden.
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