Nürnberg. Ältere Menschen erzählen selten, wie es ihnen tatsächlich geht. Ein Geriater erklärt, wann Angehörige hellhörig werden sollten.
Die Weihnachtszeit, wie auch viele andere Feiertage, ist für viele Menschen Familienzeit. Erwachsene Kinder sind zum Heimatbesuch bei Eltern, Großeltern, Bekannten und Verwandten, die man sonst vielleicht seltener sieht. Das Fest ist eine gute Gelegenheit nicht nur für gemeinsame Zeit und Nähe, sondern auch, um sich ein Bild vom Gesundheitszustand der Angehörigen zu machen.
Wie man dabei am besten vorgeht und welche Warnzeichen es gibt, weiß Markus Gosch, Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie und Chefarzt am Klinikum Nürnberg.
Herr Gosch, naheliegend ist die Nachfrage: „Wie geht es dir?“. Darf man hier gerade bei älteren Angehörigen mit einer ehrlichen Antwort rechnen?
Markus Gosch: Leider nein. Meiner Erfahrung nach gibt es hier einen großen Schamfaktor, wenn Dinge nicht mehr so funktionieren wie sie es eigentlich sollten. Außerdem wollen viele ihren Angehörigen nicht zur Last fallen. Hinzu kommt die Angst davor, wie das Gegenüber auf eine ehrliche Antwort reagiert.
Wenn beispielsweise von Luftnot berichtet wird, kann man davon ausgehen, dass diese dann von einem Arzt abgeklärt werden soll. Gerade ältere Menschen haben aber natürlich Angst, dass sich dabei dann nicht irgendetwas Banales zeigt. Und ehrlicherweise ist es ja in aller Regel ab einem gewissen Alter auch meistens ein relativ schwerwiegender Befund, der hinter anhaltenden Problemen steckt. Trotzdem ist es der falsche Weg, Beschwerden zu ignorieren.
Andererseits gibt es dann auch die Fälle, in denen Menschen sehr viel klagen und den eigenen Gesundheitszustand dramatisieren.
Gosch: Das ist gerade in der Weihnachtszeit ein Druckmittel gegenüber Angehörigen. Über Jammern und Klagen wird das Umfeld quasi gezwungen zu kommen und sich zu kümmern. Wobei hier natürlich auch Faktoren wie Einsamkeit oder auch Depressionen eine Rolle spielen. Hier gilt es, sich klar abzugrenzen und das Verhalten auch klar und direkt anzusprechen.
Wie kann man sich ein realistisches Bild der Lage machen?
Gosch: Angehörige und Freunde sollten in erster Linie darauf achten, ob sich bei ihrem Gegenüber Gewohnheiten verändern. Das ist meist ein guter Indikator dafür, dass etwas nicht stimmen könnte. Die Weihnachtszeit ist geprägt von Traditionen und Ritualen. Gerade jetzt lassen sich Veränderungen also gut erkennen. Werden noch Plätzchen gebacken? Gibt es das klassische Festtagsessen? Oder wurde sich schick gemacht wie in den Jahren zuvor? Wird die Familie überhaupt besucht?
Ist das nicht der Fall, kann das doch aber viele Gründe haben.
Gosch: Klar kann eine bewusste Entscheidung, fehlende Zeit oder auch mangelnde Motivation dahinterstecken. Meist stellt sich aber heraus, dass es mit dem Einkaufen nicht richtig geklappt hat oder die Kraft für manche Dinge mittlerweile fehlt. Ist das der Fall, werden gerne auch Ausflüchte gesucht. Aber auch die eingangs erwähnte Angst kann dahinterstecken.
Angst wovor?
Gosch: Auch Angst davor, seine Schwächen offenbaren zu müssen – etwa Familienmitglieder nicht mehr zu erkennen oder Gesprächen nicht mehr folgen zu können. Das können erste Anzeichen einer demenziellen Erkrankung sein. Betroffene müssten sich dann unangenehmen Nachfragen stellen und sich und anderen die eigenen Defizite, etwa ein abnehmendes Gedächtnis, eingestehen. Das ist extrem schwer.
Gibt es dafür noch weitere Warnsignale?
Gosch: Der Zustand der Wohnung ist immer ein guter Indikator. Dabei geht es nicht nur darum, zu schauen: Sieht das Wohnzimmer halbwegs aufgeräumt und sauber aus? Auch ein Blick in den Kühlschrank ist wichtig. Gibt es genug Lebensmittel? Sind diese noch in Ordnung oder abgelaufen? Kann man damit etwas Vernünftiges zubereiten?
Ich empfehle ebenfalls, das Bad zu benutzen und sich etwa den Zustand der Toilette anzuschauen. Ist diese verschmutzt bei einem früher eigentlich reinlichen Menschen, sollte man ebenfalls hellhörig werden. Ein allgemein unangenehmer Geruch könnte zusätzlich auf eine Blasenschwäche hindeuten.
Was sind neben körperlichen Einschränkungen, Demenz und Inkontinenz weitere häufige geriatrische Krankheiten?
Gosch: Diabetes, Herz-Kreislauf-Probleme, Blutanämie, Parkinson, Osteoporose oder auch Zahnprobleme zählen hier etwa ebenfalls dazu. Typisch für all diese Erkrankungen ist, dass es meist nicht von heute auf morgen losgeht. Das sind schleichende Prozesse, die sich sehr gut in einer schrittweisen Verschlechterung der genannten Alltagssituationen und -funktionen zeigen. Auch Tumorerkrankungen und das Stichwort „Sturzgefahr“ sollte man zusätzlich im Hinterkopf haben.
Gibt es hier auch ganz akute Warnsignale?
Gosch: Blutergüsse sollte man unbedingt ganz konkret ansprechen, denn ein Sturz ist der größte Risikofaktor für den nächsten Sturz. Und dem Bluterguss folgt irgendwann ein Knochenbruch. Das kann gerade im Alter wirklich problematisch werden.
Zusätzlich sollte man auf das Gangbild, Wegstrecke und das Lauftempo achten. Diese Punkte können darauf hindeuten, dass ein Mensch nicht mehr sicher auf den Beinen ist. Auch wenn das Aufstehen aus dem Sessel oder vom Stuhl nicht mehr sicher klappt, ist das ein Risikofaktor.
Gibt es Hinweise mit Blick auf die anderen angesprochenen Alterskrankheiten?
Gosch: Ja, aber diese sollte man ergänzend betrachten. Etwa wenn jemand sehr häufig auf Toilette muss oder ein extrem starkes Durstempfinden hat, dann kann das auf einen entgleisten Blutzucker hindeuten. Wenn jemand über lange Zeit extrem müde oder schlapp ist, könnte das ein Anzeichen auf ein mögliches Magengeschwür sein. Ein auffälliger Gewichtsverlust, rutschende Hosen – das ist ebenfalls ein Indikator dafür, dass etwas nicht stimmt, entweder körperlich oder geistig.
Viele ältere Menschen entwickeln zudem Schluckstörungen. Wenn häufig direkt nach dem Essen oder Trinken gehustet wird, kann auch das ein Alarmsignal sein, dass es abzuklären gilt. Denn Schluckbeschwerden können einerseits dazu führen, dass Menschen noch weniger trinken und andererseits kann es durchs Verschlucken natürlich auch zu einer Lungenentzündung kommen.
Häufige Äußerungen wie „Ich will nicht mehr“ oder „Ich schaffe das alles so einfach nicht mehr“ sollten ernst genommen und thematisiert werden. Hier muss konkret gefragt werden, wie solche Äußerungen gemeint sind. Das Thema Suizidalität im Alter wird leider gerne unterschätzt.
Wie sollte man bei einem Verdacht, dass etwas nicht stimmt, vorgehen?
Gosch: Man muss auf jeden Fall sensibel damit umgehen. Es ist nicht ganz einfach, solche Dinge anzusprechen. Die Holzhammermethode, dem anderen beispielsweise zu sagen, er rieche unangenehm und möge doch mal duschen, wäre sicherlich falsch. Das funktioniert eher über Umwege.
Was haben Sie hier konkret im Kopf?
Gosch: Es geht eher darum, konkret Hilfe anzubieten, immer wieder aufs Neue. Man muss dem anderen Zeit geben, sich mit dem Gedanken anzufreunden, sich darauf einzulassen und Hilfe annehmen zu können. Das Hilfsangebot muss häufig wiederholt werden, bis Betroffene sich öffnen und von sich aus über Probleme reden. Man sollte immer darauf achten, dem anderen seinen Stolz, seine Würde und auch sein Bedürfnis nach Autonomie zuzugestehen.
Warum ist das so wichtig? Auch Angehörige, die Druck aufbauen, meinen es ja eigentlich gut.
Gosch: Man kann niemanden zu seinem Glück zwingen. Druck erzeugt erfahrungsgemäß immer Gegendruck. Man kann Probleme nur immer wieder ansprechen, an vorangegangene Gespräche erinnern. Und ich rate dringend davon ab, das weihnachtliche Festessen zu einer Testveranstaltung für ältere Familienmitglieder ausarten zu lassen.
Weihnachten ist natürlich die Zeit, in der man zusammen kommt. Aber man sollte es mit der Kontrolle und dem Abklopfen potenzieller Einschränkungen nicht übertreiben. Die Eltern und Großeltern sind ja in aller Regel auch nicht dumm und realisieren das. Das stört dann eher den Weihnachtsfrieden, als dass es Betroffenen langfristig weiter hilft.