Berlin. Experten erwarten eine starke Grippesaison. Infektiologe Oliver Witzke erklärt, warum sich nicht nur Ältere impfen lassen sollten.
Auf der Südhalbkugel gab es auch in diesem Jahr wieder eine starke Grippewelle. Schlechte Vorzeichen auch für Deutschland und Europa? Ein Gespräch mit Prof. Oliver Witzke, Chef-Infektiologe des Universitätsklinikums Essen, über seine Erwartungen an die diesjährige Saison.
Herr Witzke, im vergangenen Jahr war angesichts von Millionen Krankheitstagen wegen Atemwegsinfekten von Nachholeffekten wegen der Corona-Schutzmaßnahmen die Rede. Geht das in diesem Jahr so weiter?
Oliver Witzke: Es gab tatsächlich einen riesigen Nachholeffekt, nicht nur bei Kindern, sondern auch bei Erwachsenen. Viele Menschen hatten das Gefühl, aus dem Infektionszyklus gar nicht mehr herauszukommen. Coronaviren, Rhinoviren, Respiratorische-Synzytial-Viren, also RSV, und Grippeviren waren gleichzeitig unterwegs. Hatte man sich von einem Infekt erholt, kam der nächste. Als gesunder Mensch ist man dann schon ständig erschöpft, kränklich und müde, aber kranke und ältere Menschen kommen da schnell an die Grenzen der Kompensationsfähigkeit. Wir machen uns schon Sorgen, dass es auch in diesem Jahr nochmal einen erheblichen Nachholeffekt geben wird. Das Gesundheitssystem bereitet sich darauf vor.
Es gab 2022/2023 eine ausgeprägte Grippesaison. Was erwarten Sie diesmal?
Witzke: Natürlich haben wir beobachtet, was auf der Südhalbkugel passiert ist. Dort ist die Grippe auch diesmal wieder ein sehr großes Problem. Und da das im Halbjahresrhythmus zwischen Nord- und Südhalbkugel hin- und herschaukelt und es in Deutschland diesmal keine generelle Maskenpflicht geben wird, rechnen wir auch hierzulande potenziell mit einer sehr heftigen Grippewelle.
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Was bedeutet das für jeden einzelnen?
Witzke: Die traditionelle Saisonalität hat sich wegen Corona nach vorne verschoben. Man hat sonst immer gesagt, dass die Grippe-Welle nach Silvester losgeht. Es könnte sein, dass sie in diesem Jahr eher kommt. Deshalb ist es wichtig, dass jetzt die Impfkampagne in Gang kommt. Das ist unser Hauptfokus, dass die Bürger mitmachen und die Impfquote besser wird. Der Impfstoff ist verfügbar, es kann losgehen. Wir wollen mit guter Informations- und Überzeugungsarbeit erreichen, dass die Bevölkerung sich dieses Themas annimmt. Es gibt natürlich eine gewisse Müdigkeit, sich jetzt überhaupt mit Infektionserkrankungen beschäftigen zu wollen, nachdem wir alle hier einen tollen Sommer hatten. Aber da müssen wir jetzt wieder ansetzen.
Die Grippe-Impfung wird doch von der Ständigen Impfkommission (Stiko) gar nicht allen empfohlen?
Witzke: Ich würde mir wünschen, dass man die Empfehlungen der Stiko sehr weit interpretiert. Darin gibt es ja explizit eine Impfempfehlung für Personen, die in einem Haushalt oder eng mit gefährdeten Menschen zusammenleben. Und da dürfte es nur sehr wenige Menschen geben, die das nicht betrifft. Es gibt eigentlich für jede Person ein Fenster in der Stiko-Empfehlung.
Sie gehen davon aus, dass es keine Maskenpflicht mehr geben wird. Aus ihrer Sicht ein Fehler?
Witzke: Nein. Für Immungesunde ist der Kontakt mit den Viren nicht lebensgefährlich. Man braucht ihn sogar, um eine Grundimmunität aufrecht zu erhalten. Das sieht man ja an den Nachholeffekten nach Corona. Risikopatienten allerdings sollten sich gut überlegen, sich mit Masken zu schützen, das ist eine individuelle Entscheidung.
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Was empfehlen Sie konkret?
Witzke: Ich empfehle meinen vulnerablen Patienten die Maske. Und wer erkältet ist, sollte ebenfalls auf eine Maske zurückzugreifen, wenn man in größeren Menschenmengen unterwegs ist. Ich finde, das ist ein Gebot der Fairness. Warum soll ich in der Schlange an der Supermarktkasse stehen und riskieren, dass auch andere Leute krank werden. Darüber hinaus sollte ich mir auch überlegen, ob ich wirklich zu Oma und Opa muss, wenn ich krank bin oder ein krankes Kind zuhause habe. Oder warte ich nicht lieber, bis die Krankheit abgeklungen ist? Oder wenn es sich nicht vermeiden lässt, dass ich dann eine Maske trage. Ich habe aber das Gefühl, dass das innerhalb von Familien schon überlegt wird. Dieses Verantwortungsbewusstsein ist da. Und damit fühlt man sich ja auch besser.