Berlin. Für Säuglinge und bestimmte Menschen ist das RS-Virus gefährlich. Ein Experte bemängelt, dass es noch immer keine Impfempfehlung gibt.
Mehr als fünf Millionen Menschen in Deutschland laborieren derzeit einem Bericht des Robert-Koch-Instituts (RKI) zufolge an einer Atemwegserkrankung herum. Seit zwei Wochen steigt die Kurve steil an. Prof. Oliver Witzke, Chef-Infektiologe der Uniklinik Essen, erwartet auch jenseits von Corona eine schwere Krankheitssaison.
Im Interview erklärt Witzke, warum auch Erwachsene das häufig bei Kindern verbreitete RS-Virus nicht unterschätzen sollten und weshalb trotz vorhandener Impfstoffe mutmaßlich viele Menschen auf eine Schutzimpfung verzichten könnten.
Herr Witzke, im vergangenen Jahr war angesichts von Millionen Krankheitstagen von Nachholeffekten wegen der Corona-Schutzmaßnahmen die Rede. Geht das jetzt so weiter?
Witzke: Es gab tatsächlich einen riesigen Nachholeffekt, nicht nur bei Kindern. Viele Menschen hatten das Gefühl, aus dem Infektionszyklus gar nicht mehr herauszukommen. Coronaviren, Rhinoviren, Respiratorische Synzytial-Viren, also RSV, und Grippeviren waren gleichzeitig unterwegs. Hatte man sich von einem Infekt erholt, kam der nächste. Als gesunder Mensch ist man dann schon ständig erschöpft und kränklich, aber kranke und ältere Menschen kommen da schnell an die Grenzen der Kompensationsfähigkeit. Wir machen uns schon Sorgen, dass es auch in diesem Jahr noch mal einen erheblichen Nachholeffekt geben wird. Das Gesundheitssystem bereitet sich darauf vor.
Die von ihnen genannten RS-Viren waren im vergangenen Jahr plötzlich in aller Munde. Warum?
Witzke: Das Thema ist deshalb aufgekommen, weil wir bei den PCR-Tests nicht nur Corona, sondern auch RSV testen konnten. Und obwohl man es hätte ahnen können, weil es so in der Fachliteratur beschrieben ist, waren wir entsetzt und überrascht, wie viele RSV-Infekte es tatsächlich gibt.
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Was unterscheidet diese Viren von, sagen wir, einem Schnupfen?
Witzke: RSV kann ähnlich wie die Grippe zu schweren Krankheitsverläufen bis hin zu Todesfällen führen. Das ist überhaupt nicht vergleichbar mit dem normalen Schnupfen, bei dem der Hals kratzt, man aber nicht schwer krank wird und ins Krankenhaus muss. RS-Viren können auf die Lunge gehen – und sie tun es gerade bei kleinen Kindern und Risikopatienten, die alt sind oder ein geschwächtes Abwehrsystem haben. Bei einem gewissen Prozentsatz der infizierten Personen führt das zu schweren Komplikationen.
In diesem Herbst und Winter wird es mit Abrysvo von Pfizer und Arexvy von Glaxo-Smith-Kline erstmals Impfstoffe gegen RSV geben. Abrysvo ist für Schwangere vorgesehen, die den Immunschutz im Mutterleib und später über das Stillen an den Säugling weitergeben. Zusätzlich ist der Impfstoff zur aktiven Immunisierung von Personen ab 60 Jahren geeignet. Arexvy ist ebenfalls für diese Altersgruppe angedacht. Klingt gut, oder?
Witzke: Die Datenlage für diese geschilderten Kollektive ist gut. Und wir haben tatsächlich in den letzten Jahren erkannt, dass es signifikante Problem nicht nur für die kleinen Kinder gibt, sondern auch für die älteren und vulnerablen Menschen, die über 60 sind oder schwere Grunderkrankungen haben. Und deshalb bin ich nicht erfreut darüber, dass es keine Empfehlung der Ständigen Impfkommission (Stiko) für eine RSV-Impfung gibt. Das würde schon sehr helfen. Denn ich fürchte, dass wegen der fehlenden Empfehlung dieses Jahr kaum Impfungen vorgenommen werden.
Warum?
Witzke: Weil die Situation anders ist als bei den Grippeimpfstoffen. Diese kennen wir seit Jahrzehnten und haben Erfahrungen, was die Nebenwirkungen angeht. Bei ganz neuen Impfstoffen sehe ich nicht, dass viele Ärztinnen und Ärzte bereit sein werden, diese ohne Empfehlung zu impfen, auch wenn sie formal zugelassen sind. Vor allem bei einer Impfung für Schwangere gibt es ein besonders großes Bedürfnis, sich abzusichern. Ohne Empfehlung der Ständigen Impfkommission bräuchte es da eine sehr ausführliche individuelle Beratung. Das würde viel Zeit kosten. Und Zeit ist im gesamten medizinischen Sektor begrenzt. Mal ganz davon abgesehen, dass die Kostenübernahme durch die Krankenkassen nicht geklärt ist.
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Aber wird da ob der erwarteten Fallzahlen nicht eine Chance verspielt?
Witzke: Ich möchte die Stiko nicht kritisieren. Sie hat das Thema auf der Agenda. Trotzdem würde ich mir einfach wünschen, die Stiko hätte generell die Ressourcen dazu, solche Fragen zeitnah zu bearbeiten. Denn jetzt wird der Schutz vor RSV in diesem Jahr zu einem Thema nur für jene Menschen, die Zugang zu einem Arzt oder einer Ärztin haben, der oder die eine ausführliche, vielleicht sogar schriftliche Aufklärung mit dem Patienten tatsächlich durchführt. Und dann muss ich mir als Patient die nicht ganz billige Impfung gegebenenfalls auch noch leisten können. Diese Ungleichheit im System gefällt mir nicht.