Berlin. Magersucht und Bulimie ist den meisten Menschen ein Begriff. Doch es gibt eine weitere Essstörung, die noch viel häufiger vorkommt.
Es passiert schnell: Das Weihnachtsessen bei der Familie ist so lecker, dass man es einfach nicht lassen kann, weiter zu essen. Eine Viertelstunde später liegt man dann mit vollem Bauch auf dem Sofa und fragt sich, wieso man nicht früher aufgehört hat. Doch was ist, wenn das immer wieder passiert und man ständig in kürzester Zeit zu viel isst?
Menschen, die unter der Binge-Eating-Störung (BES) leiden, haben genau das: Immer wiederkehrende "Fressanfälle". Betroffene nehmen dann außergewöhnlich viel Essen in kürzester Zeit zu sich. Doch: Wo ist der Unterschied zwischen hin und wieder mal zu viel essen und der Binge-Eating-Störung?
"Es gibt nach der Leitlinie der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) fünf Kriterien, die erfüllt sein müssen, um eine BES eindeutig diagnostizieren zu können" erklärt Tobias Herhahn, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie und Funktionsoberarzt an der Schön Klinik Bad Bramstedt, auf Anfrage dieser Redaktion. Dabei gehe es um folgende fünf Kriterien:
- Wiederkehrende Essanfälle, begleitet von einem Gefühl des Kontrollverlustes
- Assoziation der Essanfälle mit mindestens drei von fünf Verhaltensmerkmalen (schneller als sonst essen, unangenehmes Völlegefühl, viel essen ohne hungrig zu sein, aus Scham allein essen, Ekel, Schuldgefühle oder Niedergeschlagenheit nach einem Essanfall)
- Leidensdruck wegen der Essanfälle
- Häufigkeit der Essanfälle: mindestens einmal wöchentlich in drei Monaten
- Auf die Essanfälle folgen nicht regelmäßig unangemessene Gegenmaßnahmen und die Essanfälle treten nicht ausschließlich im Kontext einer Bulimia Nervosa oder Anorexia Nervosa auf
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Experten: Es geht nicht um Genuss, sondern um Emotionsregulierung
Vor allem das "Lost-of-Control-Gefühl" spiele bezüglich der Binge-Eating-Störung eine wichtige Rolle, wie Liane Hammer, Therapeutische Leiterin von TheraTeam in München – einem auf Essstörungen spezialisierten Therapeutenteam aus Psychotherapeutinnen und Ernährungstherapeutinnen – auf Anfrage dieser Redaktion erklärt. "Die Essanfälle können zum Beispiel über Stunden hinweg dauern, ohne dass Betroffene den Beginn oder das Ende des Anfalls genau bestimmen können", erläutert die Expertin.
Bei dem Essen gehe es jedoch nicht um Genuss, sondern um eine "Emotionsregulierung", so Herhahn. Auch Hammer erklärt, dass die BES häufig ein Ventil für Menschen sei, die nicht gelernt hätten, auf andere Weise mit ihren Emotionen umzugehen. Diese Menschen seien daher besonders gefährdet. "Außerdem ist eine Essstörung – egal welche – fast immer auch mit einem niedrigen Selbstwertgefühl verbunden", ergänzt Hammer.
Deshalb leiden deutlich mehr Frauen als Männer unter der Binge-Eating-Störung
Da die Binge-Eating-Störung laut des Facharztes für Psychotherapie jedoch viele Faktoren hat, gebe es auch viele verschiedene Auslöser. "Natürlich spielt in gewissem Maße die Genetik eine Rolle und bei Menschen, die im Kindesalter unter einer Adipositas litten oder schon einmal ein restriktives Essverhalten hatten, ist die Auftrittswahrscheinlichkeit auch höher", so Herhahn. Darüber hinaus gebe es jedoch noch viele weitere Faktoren, wie der Facharzt betont.
Dass rund 3,5 Prozent der Frauen in Deutschland unter der Binge-Eating-Störung leiden oder schon mal gelitten haben, aber nur zwei Prozent der Männer, habe ebenfalls verschiedene Gründe, wie Herhahn erklärt: "Nicht nur die hormonellen Einflüsse sind entscheidend, sondern auch soziokulturelle Gründe.
Insgesamt machen Frauen sich zum Beispiel immer noch mehr Gedanken über ihr Aussehen als Männer, was das Auftreten einer Essstörung ebenfalls begünstigt". Vernachlässigen dürfe man, so die therapeutische Leiterin von TheraTeam, außerdem nicht, dass Frauen häufiger professionelle Hilfe suchen würden. Bei Männern sei die Dunkelziffer daher eventuell höher.
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Oberarzt erklärt: Die Binge-Eating-Störung hat einen großen Anteil von Normalität
Die Scheu davor, sich Hilfe zu suchen, hinge unter anderem damit zusammen, dass das Schamgefühl bei der Binge-Eating-Störung laut Herhahn "unfassbar groß" sei. Das sei auch einer der Gründe, wieso die BES häufig unentdeckt bleibe – und das, obwohl sie nach Angaben der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung die am weitesten verbreitete Essstörung sei und deutlich häufiger auftrete als die Magersucht und die Bulimie. Doch woran liegt das?
"Die Binge-Eating-Störung fällt einfach am wenigsten auf. Dann isst man halt mal mehr – das ist zunächst einmal nichts ungewöhnliches", so Hammer. Die Binge-Eating-Störung falle weniger auf. Herhahn: "Wenn man das Essen nur temporär als Emotionsregulierung benutzt, zum Beispiel nach einer Trennung mal eine Packung Eis isst, ist das zunächst noch nichts auffälliges. Aber der Übergang zu einem langfristig dysfunktionalen Essverhalten ist eben fließend", so der Oberarzt.
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Diese Anzeichen können auf die Binge-Eating-Störung hindeuten
Wie kann man also erkennen ob man selbst oder jemand anderes unter der Binge-Eating-Störung leidet? Laut Hammer könne man sich zunächst fragen, ob die oben genannten Anzeichen auf einen selbst zutreffen, sprich: Esse ich heimlich? Esse ich sehr viel, ohne hungrig zu sein? Ziehe ich mich zurück? Und vor allem: Leide ich darunter? "Wenn das der Fall ist, sollte man sich auf jeden Fall Rat suchen. Es gibt auch ganz niederschwellige Beratungsangebote", so die therapeutische Leiterin von TheraTeam.
Das Essverhalten anderer Personen könne man eventuell zwar nicht so genau beurteilen, so Herhahn, doch wenn man bemerke, dass sich jemand anderes zum Beispiel zurückzieht oder sich insgesamt verändert, könnte das auf die Binge-Eating-Störung hindeuten. "Vielleich fällt mir auch auf, dass jemand viel öfter einkaufen geht als früher oder viel stiller ist, für sich bleibt und ein Rückzugsverhalten aufweist. Das alles können Indizien für die Binge-Eating-Störung sein, bei deren Auftreten man mit der Person sprechen und Hilfe suchen sollte", erklärt der Facharzt.
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