Berlin. Minimalismus als Denkweise soll das Wohlbefinden steigern. Ein Experte erklärt, worum es dabei geht und wie die Technik funktioniert.

Reichen 100 Dinge im Haushalt für ein gutes Leben? Ist Verzicht ein Geschenk – oder doch eher Mühsal und Seufzen? Die Idee des Minimalismus ist allgegenwärtig: beim Aussortieren und Einrichten, in der Mode, auf Instagram #tinyhouse oder beim Packen der Reisetasche. Oder vielleicht beim „Ohh“ angesichts eines puristisch eingerichteten Restaurants. Oder die Freundin ist vielleicht Expertin in Sachen Zero Waste und No Plastic, der Kollege versucht sich als Selbstversorger.

Minimalismus ist längst mehr als weiße Wände und gerade Linien. Es ist ein vielfältiges Konzept, das jede und jeder auf ihre oder seine Weise lebt – und das sich stetig wandelt und neu erfindet. Das Bedürfnis, sich aufs Wesentliche zu konzentrieren, wächst. Die Kulturwissenschaftlerin Anika Neugart schreibt in „Simply Green: Von Achtsamkeit bis Zero Waste“: „Der gesellschaftliche Trend zum einfachen Leben ist häufig in Krisenzeiten zu beobachten.“ Für nicht wenige Menschen ist die Idee des Minimalismus gerade jetzt ein Trost: als politisches Statement und individuell lebbare Antwort auf das, was ängstigt und ärgert, Stress, Krieg, Klimawandel und einen ausufernden Kapitalismus.

Darum steigert Minimalismus das Wohlbefinden

Wissenschaftlich erforscht ist: Minimalismus macht tatsächlich etwas mit der Seele. Ein Team um den Psychologen Joshua N. Hook von der University of North Texas hat im vergangenen Jahr 23 Studien zum Thema Minimalismus und Wohlbefinden ausgewertet. In 80 Prozent der Studien zeigte sich: Das einfache Leben, bewusst gewählt, steigert das Wohlbefinden. Die Forschenden vermuten, dass vor allem das Gefühl, die eigenen Konsumwünsche kontrollieren zu können, und die stärkere Hinwendung zu seelischen Bedürfnissen, die mit diesem Lebensstil oft verbunden ist, den Menschen das Glück bringen.

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Um an diesen Punkt zu gelangen, braucht es jedoch meist mehr, als die „The 100 Thing Challenge“ erfolgreich zu absolvieren oder den Kleiderschrank zu optimieren. Das Zuviel im Leben ist sehr oft dinglich, aber eben nicht nur. „Ich habe ein volles Leben mit einem erfüllten Leben verwechselt“, meint etwa Leonie Schulte, die mit „Weniger ist mehr – was Familien wirklich brauchen“ ein kluges Buch über minimalistisches Familienleben geschrieben hat. „Ich hatte zu viel Arbeit, zu viel Termine, zu viele Verbindlichkeiten. Und vor allem zu viele Erwartungen.“ Sich aufs Wesentliche zu konzentrieren, ist letztlich eine Form der Selbstfürsorge. Aber was ist das Wesentliche?

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Essenzialismus: Buchautor erklärt, worum es geht

„Weniger, aber besser!“ Der in den USA lebende Brite Greg McKeown gibt uns mit seiner Idee vom Essenzialismus eine Hilfestellung, wie wir lernen können, uns nicht nur minimalistisch einzurichten oder zu kleiden, sondern Minimalismus als Denkweise zu verstehen, die uns leitet und durch die Untiefen des Lebens navigiert.

In seinem Buch „Essentialismus. Die konsequente Suche nach weniger“, einem New-York-Times-Bestseller, erklärt er seine Idee so: „Beim Essenzialismus geht es um den Entwurf eines Systems, mit dessen Hilfe der Kleiderschrank unseres Lebens verwaltet werden kann. Dies ist keine Maßnahme, die man wie das Aufräumen des Kleiderschranks einmal jährlich, einmal monatlich oder sogar einmal wöchentlich vornimmt. Es geht vielmehr um die Disziplin, die man jedes Mal dann anwendet, wenn eine Entscheidung getroffen werden muss, ob man Ja sagen oder höflich ablehnen sollte.“

Die amerikanische Schriftstellerin und Pulitzerpreis-Trägerin Mary Oliver schrieb in ihrem Gedicht „The summer day“: „Sag mir, was du tun willst mit deinem einzigen wilden und kostbaren Leben.“ McKeown zitiert sie und fordert uns auf, uns häufiger genau diese Frage zu stellen. „Stellen Sie sich bloß einmal vor, was mit unserer Welt geschehen würde, wenn jeder Mensch auf dem Planeten eine gute, aber unwesentliche Aktivität streichen und durch etwas wirklich Wesentliches ersetzen würde.“

Minimalistisch denken: Diese Frage soll helfen

McKeown hat seine Karriere als Business-Stratege begonnen, heute ist er ein viel gebuchter Speaker und Autor. Viele seiner (unterhaltsamen und anschaulichen) Beispiele stammen aus der Berufswelt, seine Ideen und die Strategien, die er vorschlägt, sind allgemeingültig und vielseitig anwendbar.

Er bietet ein hilfreiches Denk-Tool für alle, die Klarheit gewinnen, gern minimalistisch und nachhaltig leben möchten, sich im Alltag jedoch regelmäßig zwischen Wunsch und Wirklichkeit verheddern. Wer kennt es nicht? Unverpackt vs. Discounter. Voller Schrank vs. Vinted-Crush. Bequem sein vs. das Richtige tun. McKeown: „Mit welchen Entscheidungen, Herausforderungen oder Scheidewegen auch immer Sie in Ihrem Leben konfrontiert werden, fragen Sie sich einfach‚ was ist wesentlich?“

Psychologie: Warum Kompromisse unbedingt notwendig sind

Nach seiner Ansicht beginnen wir, essenzialistisch zu denken, wenn wir drei Grundwahrheiten verstehen und akzeptieren.

  1. Es liegt an uns, zu entscheiden, worauf wir unsere Energie, Ressourcen und Zeit verwenden wollen. Wer nicht selbst die Prioritäten für sein Leben setzt, für den wird es jemand anders tun.
  2. Fast alles ist unwichtig, und nur sehr wenige Dinge sind außerordentlich wertvoll und bedeutsam. Dies rechtfertigt, dass man sich die Zeit nimmt herauszufinden, was am wichtigsten ist.
  3. Wir können nicht alles haben oder alles tun. Kompromisse und Entscheidungen sind daher unbedingt notwendig.
An das Wesentliche und Essenzielle denken: Das soll viele Vorteile haben – mit ein paar Tipps ist es möglich. (Symbolbild)
An das Wesentliche und Essenzielle denken: Das soll viele Vorteile haben – mit ein paar Tipps ist es möglich. (Symbolbild) © epicurean/iStock

Minimalistisch denken: Mit diesen Schritten soll es funktionieren

McKeowns Strategie für die praktische Umsetzung besteht wiederum aus drei Stationen, die wir im besten Fall wieder und wieder zyklisch durchlaufen.

  1. Erforschen und bewerten: Genau hinhören (auch auf das, was nicht gesagt wird), klug debattieren, Dinge hinterfragen, viel nachdenken und reflektieren, darauf sollten wir sehr viel Zeit verwenden, aber nicht zum Selbstzweck. Diese Suchbewegungen sollen uns helfen, die wenigen wesentlichen Dinge von vielen belanglosen zu unterscheiden. Was will ich wirklich? Wo kann und will ich einen Beitrag leisten? Was entspricht meinen Werten?
  2. Abschied vom Belanglosen: Das (für uns!) Wichtige dem Unwichtigen vorziehen – damit uns das tatsächlich gelingt, müssen wir Nein zu etwas oder jemandem sagen. Es kann bedeuten, sich gegen soziale Erwartungen zu stellen oder jemanden zu enttäuschen. Und ja, es kann wirklich schwerfallen, eine Wahl zu treffen, es kann sich sogar wie Verlust anfühlen. Um dies gut zu machen, braucht man manchmal Mut. Und eine Art emotionale Disziplin, um sich sozialem Druck zu widersetzen.
  3. Umsetzen: Um das, was wir für uns ausgewählt haben, zu erreichen, können wir uns in der Kompetenz des Gelingens schulen. Es sind scheinbar einfache Dinge, die den Weg zum Wesentlichen ebnen: klein anfangen, gute Vorbereitung, stets Zeitpuffer einplanen, Erreichtes feiern, hilfreiche Routinen entwickeln, ausreichend schlafen und sich auf den Augenblick konzentrieren.

Wie gesagt: Das klingt einfach, fast. Das Schwierige ist, es nicht nur theoretisch zu verstehen und gutzuheißen, sondern das eigene Tun genau daraufhin zu überprüfen und entsprechend zu handeln. Jeden Tag aufs Neue. Wenn wir unseren inneren Kompass auf diese Weise schulen, gelingt es uns mit der Zeit immer besser und schneller, bei kleinen und großen Entscheidungen das Wesentliche zu erkennen. Wir können unsere Werte auf eine Weise umsetzen, die uns glücklicher und zufrieden macht und ein selbstbestimmtes, aktives Leben ermöglicht.

Die Geschichte des Minimalismus

  • Antike: Eine schlichte Lebensweise galt bereits den westlichen wie östlichen Religionen und den Philosophen der Antike als Weg zur spirituellen Erfüllung.
  • 1845: Moderner Wegbereiter des bewussten Verzichts: Philosoph Henry David Thoreau, der in eine Hütte am Walden Pond in den Wäldern von Massachusetts zog, für ein alternatives Leben. Seine Ideen haben die Tiny-House-Bewegung stark beeinflusst.
  • Ab 1919: Die Künstlerinnen, Architekten und Designerinnen der Bauhaus-Avantgarde setzten auf Reduktion und eine industrielle, minimalistische Optik.
  • Ab 1960: In der Kunst entwickelte sich der Minimalismus als Gegenbewegung zum Expressionismus. Typisch: einfache, geometrische Formen, sogenannte Primary Structures.
  • 1976: Mit seinem internationalen Bestseller „Haben oder Sein“ schrieb der deutsche Sozialpsychologe Erich Fromm konsumkritische Geschichte.
  • Ab 1980: Eine der wichtigsten Vertreterinnen in der Mode: Jil Sander, die Queen of Less. Die amerikanische Designerin Donna Karan kreierte in den 1980er-Jahren Seven Easy Pieces, auch Essentials genannt. Heute heißt der Trend: Capsule Wardrobe.
  • Seit 1990: Coaches arbeiten mit Begriffen wie Downsizing und Simplifying vor allem an der praktischen Umsetzung des Vereinfachens.
  • Ab 2008: Die Finanzkrise politisierte: Minimalismus entwickelte sich zum wichtigen Buzzword und vereint kritischen Konsum, bewussten Verzicht und puristisches Design.

Dieser Artikel erschien zuerst im Magazin "Kronendach", das wie diese Redaktion zur Funke Mediengruppe gehört.