Berlin. Die ARD traut sich was: In der Serie „Oderbruch“ kreuzt sie moderne Mystery schaurig schön mit Traumata der deutschen Vergangenheit.
Es beginnt gleich mit größtmöglichem Schockeffekt. Und einer gehörigen Portion Ekel. Buchstäblich über Nacht findet sich mitten auf dem Land ein riesiger Leichenberg. Gerippe von Menschen, aber auch von Tieren, die irgendjemand aufgetürmt hat, wie um ein Zeichen zu setzen.
Aber wer kann das getan haben? Ohne dabei gesehen zu werden? Und woher kommen all die Toten? Mit vielen Fragen beginnt die Serie „Oderbruch“, die die ARD am 19. Januar mit gleich vier Folgen startet. Und je länger die Serie dauert, desto mehr Fragen und Hä?-Momente kommen hinzu.
Gleich ist da ein Berg voller blutleerer Leichen
Der titelgebende Naturraum im ländlichen Osten Brandenburgs gibt hier nur den Schauplatz, mal malerisch-schön, mal düster-bedrohlich. Geschickt werden hier auch gleich mehrere Traumata der jüngsten Vergangenheit verarbeitet: die Landnahme nach der Wiedervereinigung, die Verheerungen der Jahrhundertflut 1997 und selbst der Zweite Weltkrieg.
Hier fand nach dem Vorrücken der Sowjetarmee die größte und verlustreichste Schlacht auf deutschem Boden statt, weshalb immer noch Skelette von damals gefunden werden. Aber das erklärt nicht diesen Leichenberg. So alt sind die Gerippe nicht. Die Toten waren, wie sich herausstellt, Obdachlose, Junkies und Waisen. Menschen, die keiner vermisst. Und die über Jahre unbemerkt verschwunden sind.
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Der fiktive Ort Krewlow, bei dem der gruselige Haufen gefunden wird, zählt keine hundert Einwohner mehr. Die meisten sind weggezogen, zurück blieben nur die Alten. Und die sagen nichts. Sondereinheiten der Polizei aber fallen nun wie Heerscharen ein, bauen Zelte und Container um den Leichenfund. Und ermitteln im Dorf. Dafür wird auch ein Ermittler aus Polen, Stanislaw Zajak (Lukas Gregorowicz) hinzugezogen, weil die Toten teils auch aus dem nahen Nachbarland stammen.
Aber auch Roland Voit (Felix Kramer), ein Polizist aus Berlin, der hier geboren wurde und die Einheimischen kennt wie keiner sonst. Und Magdalena Kring (Karoline Schuch), ebenfalls eine Einheimische, die hier mit Voit zur Polizistin ausgebildet wurde, nach der Flut aber andere Wege ging. Und nun erstmals nach über 20 Jahren zurückkommt. Hinzu kommen noch viele andere Beamte, Zeugen und Verdächtigte hinzu. Das sind verwirrend viele Figuren. Zumal es um Geheimnisse aus der Vergangenheit geht, weshalb auf zwei Zeitebenen erzählt wird, mit lauter Rückblenden in die Zeit der Flug, wo die Beteiligten noch mal deutlich jünger sind.
Aber lässt man sich erstmal darauf ein, wird der Achtteiler immer spannender. Denn jeder hat hier ein Geheimnis. Voit und Kring, die man ein Paar waren und sich überwarfen. Kollege Zajak, der noch ganz andere Ermittlungen führt. Von den Einheimischen ganz zu schweigen. Alle scheinen hier was zu verbergen, keiner aber will was sagen. Aber während man anfangs noch an eine Sekte und Menschenopfer glaubt, stellt sich bald heraus, der Cliffhanger der ersten Folge, dass allen Leichen sämtliches Blut abgesaugt wurde. Sollte hier ein Vampir sein Unwesen treiben? Und treibt er es womöglich schon seit Jahrzehnten?
Die ARD wandelt hier auf Mystery-Spuren. Nach der Horrorserie „Schnee“, die in den Bergen spielte, kommt nun dieser düstere Achtteiler aus dünn besiedelter Ebene, der tatsächlich mehr und mehr zur Vampirstory mutiert. Was auch die Ermittler erst mal nicht glauben wollen. Die Blutsauger sind hier auch nicht mit spitzen Eckzähnen unterwegs und mit Knoblauch und Kruzifix zu bekämpfen.
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Da hat sich das Genre längst gewandelt und geweitet. Und erfindungsreich sind die Nachfahren hier auch. Ein Nebenstrang spielt nämlich in einem polnischen Waisenhaus. Lange scheint da kein Zusammenhang zu bestehen, bis sich herauskristallisiert, dass das Heim von obskuren Quellen unterhalten wird. Und die Waisen im Gegenzug einmal im Monat Blut spenden müssen. Vampire als Selfmade-Unternehmer? Infusionen als Booster Energy Drink?
Der Grusel kommt hier nicht mit Schockeffekten, sondern diffiziler
Die ARD wagt hier viel. Indem sie erneut auf Genre-Pfaden wandelt, die im deutschen Filmbusiness noch immer als Kassengift gelten, und man bei polnischen Szenen auch noch Untertitel lesen muss. Beides könnte ältere Zuschauer abschrecken. Aber um die geht es hier auch nicht. Das Erste setzt klar auf das jüngere Publikum.
Auf jene, die längst nicht mehr analoges Fernsehen schauen. Sondern bei der Konkurrenz der Streamingportale Netflix, Disney+ & Co. unterwegs sind, wo solche Stoffe längst Serienrenner sind. Das belegen auch die doch recht späten Ausstrahlungstermine in der ARD. Die ersten vier Folgen beginnen nach zehn Uhr abends und laufen bis fast zwei Uhr in der Nacht. Ganz klar wird hier vor allem auf die Mediathek gesetzt.
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Showrunner bei „Oderbruch“ ist Christian Alvart, der schon immer einen einsamen Kampf im deutschen Film um geächtete Genre-Kost kämpft. Von seinen Horrorfilmen „Antikörper“ und „Abgeschnitten“ über Action-„Tatorte“ mit Til Schweiger bis zu jüngsten Serienformaten wie „Dogs of Berlin“ oder „Sløborn“.
Ein Maximum an Verstörung mit einem Minimum an Dialogen
Früh schon hat er in Hollywood gearbeitet („Fall 39“) und weiß wie kein zweiter, Genrekost stilsicher mit viel Atmosphäre packend zu inszenieren – und dabei überzeugend auf deutsche Verhältnisse zu übertragen. Dabei hat er ein herausragendes Ensemble um sich geschart.
Auch wenn Felix Kramer hier einmal mehr den Provinz-Ossi geben muss (nach „Warten auf’n Bus“ und „Irgendwann werden wir uns alles erzählen“) und Lukas Gregorowicz nach seinem „Polizeiruf 110“-Ausstieg schon wieder an der polnischen Grenze ermittelt – sie spielen hier gegen eigene Klischees an. Karoline Schuch gelingt es mit intensivem Spiel, ein Maximum an Verstörung und Traumata mit einem Minimum an Dialogen glaubhaft zu vermitteln. Überraschend und schön knorrig ist hier auch Liedermacherin Bettina Wegner mit 76 in ihrer ersten Filmrolle zu erleben.
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So eklig der Auftakt mit den Leichen auch ist, setzt Alvart hier nicht auf billige Schockeffekte, sondern eher auf den feineren, aber tiefer gehenden Verstörungskitzel. Dabei lässt er die Kamera oft wie seine Figuren orientierungslos delirieren. Und springt nicht einfach in den Zeitebenen. Karoline Schuch kann Tote sehen und läuft einfach in Rückblenden hinein. Ein früher Hinweis auch, dass dies nur eine persönliche Erinnerung ist und man dieser nicht immer trauen darf.
Kein Zufall, dass die Serie im Grenzbereich spielt. Auch die ARD lotet hier Grenzen aus. Und auch wenn dabei viele Stränge erzählt werden und man zuweilen den Überblick zu verlieren droht: „Oderbruch“ beweist, dass auch deutsches Fernsehen internationale Serien-Mystery kann. Nun muss sich nur noch zeigen, ob auch das hiesige Publikum dafür bereit ist. Sonst kann man die noch so jungen und zarten Genrebemühungen gleich wieder einsargen.
„Oderbruch“: ARD, 19. und 26. Januar, je vier Folgen, ab 22.20 Uhr. Ab 19. Januar alle acht Folgen in der Mediathek.