Essen. Autor Daniel Schreiber ist seit drei Monaten Metropolenschreiber Ruhr: Was ihn nach New York und Venedig hierher gezogen hat, was ihn ärgert.

In New York hat Daniel Schreiber (47) sechs Jahre gelebt und ein kluges Buch über die Kulturkritikerin Susan Sontag geschrieben. In Venedig entstand sein jüngstes Buch „Die Zeit der Verluste“, das wichtige Wesenszüge der Gegenwart ergründet und beschreibt. Und nun lebt der in Mecklenburg geborene Autor, der vor allem mit dem Titel „Allein“, aber auch mit „Nüchtern“ und „Zuhause“ Erfolg hatte, seit drei Monaten als „Metropolenschreiber Ruhr“ im Süden von Mülheim. Wir sprachen mit ihm übers Ruhrgebiet und seine Erfahrungen hier.

Haben Sie eigentlich gezögert, die Einladung ins Ruhrgebiet anzunehmen?

Gar nicht so lange. Ich wusste, dass ich eine Zeit der Neuorientierung brauchte und hatte das Gefühl: Hier ist das möglich.

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Was wussten Sie vom Ruhrgebiet, bevor sie im Oktober ihren Gastaufenthalt hier angetreten haben?

Ganz wenig. Ich hatte die klassischen Bilder im Kopf, die Nachrichtenbilder vom Strukturwandel einer Bergbauregion zu einer Region, die sich eher mit Kultur identifiziert. Aber da hörte es auch schon auf. Ich hatte ab und zu mal Lesungen im Ruhrgebiet, aber nie so viele wie in Baden-Württemberg oder Köln und Düsseldorf. Wenn ich dann mit dem Zug durchgefahren bin, habe ich in Duisburg oder Essen oft gedacht: „Ah, hier hast du noch gar nicht gelesen. Oder erst einmal.“ Ich bin wirklich hergekommen, um die Region kennenzulernen und auch, wenn es sie gibt, eine gewisse „Mentalität.“

„Metropolenschreiber“ Ruhrgebiet

Seit 2017 vergibt die Essener Brost Stiftung, die 2011 aus einer testamentarischen Verfügung der Essener Verlegerin Anneliese Brost hervorging und mit rund 300 Millionen Euro Einlagekapital startete, das großzügig dotierte Aufenthalts-Stipendium „Metropolenschreiber Ruhrgebiet“. Erste Amtsinhaberin war die Schriftstellerin Gila Lustiger, ihr folgten der Journalist Lucas Vogelsang, der Philosoph und Publizist Wolfram Eilenberger, der deutsch-argentinische Autor Ariel Magnus, die österreichische Schriftstellerin Raphaela Edelbauer und der Historiker Per Leo. Nach Ingo Schulze wurde Anfang 2024 die feministische Philosophin Eva von Redecker Metropolenschreiberin.

Daniel Schreibers Antrittslesung findet am 22. Januar im Essener Glückauf-Kino statt, Bettina Böttinger wird sich dazu mit ihm unterhalten – die Veranstaltung ist bereits ausverkauft. Weitere sollen folgen.

Wie machen Sie das?

Ich fahre durchs ganze Ruhrgebiet, ich gucke mir alle möglichen Museen an, ich war in den vergangenen Tagen dreimal beim Tanz, in Essen, Gelsenkirchen und Düsseldorf, das zähle ich wegen der Oper am Rhein in Duisburg mal dazu. Ich nehme Tennis-Stunden im Club bei mir um die Ecke, Tennis spielen konnte ich bisher nicht. Ich rede mit den Nachbarinnen und Nachbarn. Schließlich bin ich auch mit einem Projekt im Hinterkopf hergekommen, das sich mit dem Zusammenleben beschäftigen sollte.

Metropolenschreiber Daniel Schreiber im FMO
Daniel Schreiber besuchte die Redaktion der WAZ in Essen. © FUNKE Foto Services | Kerstin Kokoska

Als Gegenstück zu ihrem „Allein“-Buch?

Nein, im Sinne eines gelingenden Zusammenlebens verschiedener Gemeinschaften. Das war das, was ich gehört hatte vom Ruhrgebiet. Im Nachhinein muss ich sagen: ein eher verklärtes Projekt. Ich wusste, dass das Ruhrgebiet eine Region ist, wo sehr viele Schichten und Milieus aufeinandertreffen. Bürgerliche und migrantische, einige der reichsten Familien Deutschlands und große Armut. Ich wollte schauen, wie das funktionieren kann, ob man daraus nicht etwas ableiten kann für Deutschland als Gesellschaft. Ich glaube, das ist die große Frage der nächsten Jahre: Wie organisieren wir unser Zusammenleben, wenn Menschen sich immer mehr voneinander entfernen? Wenn Lebenserfahrungen immer mehr auseinanderfallen, wenn politische Meinungen sich zu ideologischen Frontkämpfen verhärten.

Und?

Mein Projekt hat sich in den letzten drei Monaten sehr verändert. Ich nehme vielmehr eine große Erschöpfung in der Region wahr. Einer Region, deren schwindender Wohlstand darauf beruht, die Erde ausgebeutet zu haben – um sich ein Lebensmodell zu erarbeiten, das vielleicht eher zu einer Art von Vergangenheit gehört. Ein sehr deutsches Lebensmodell – jede Familie hat ein Eigenheim und ein bis drei Autos – das hier sehr ausgeprägt ist. Das ist natürlich nichts Nachhaltiges. Das sind aber wirklich nur Eindrücke, vorläufige. Ich möchte keine Urteile fällen.

Auch nicht über den öffentlichen Personennahverkehr?

Sagen wir, mit dieser einen Ausnahme! Man ist hier auf Busse und Straßenbahnen angewiesen, die häufig einfach nicht kommen. In Mülheim zumindest.

Was doppelt misslich sein muss, weil ihre Residenz im Mülheimer Süden etwas weit weg vom Schuss ist.

Das hat mich eher neugierig gemacht. Ich kannte diese Art von Vorort-Leben noch gar nicht. Ich bin in einem sehr kleinen Dorf in Mecklenburg-Vorpommern großgeworden und habe dann nur in größeren Städten gewohnt.

Metropolenschreiber Daniel Schreiber im FMO
Nur mit Bussen und Bahnen unterwegs: Bestseller-Autor Daniel Schreiber. © FUNKE Foto Services | Kerstin Kokoska

Und Sie fahren kein Auto?

Richtig. Ich habe zwar einen Führerschein, aber ich bin seit über 25 Jahren nicht mehr gefahren. Ich mache alles zu Fuß oder mit öffentlichem Nahverkehr, der hier, wie gesagt, überraschend desaströs ist. Man muss die Tage anders organisieren als in Berlin, man schafft viel weniger. Wenn ich zwei Museen sehen möchte, ist das ein volles Tagesprogramm.

Sie kennen vielleicht den häufigsten Satz von Besuchern hier im Ruhrgebiet, der manchen hier schon wieder zu den Ohren rauskommt? „Das ist aber grün hier!“ Okay, im Moment ist es ziemlich grau…

… aber es gibt qualitativ wenige Unterschiede zwischen dem winterlichen Grau in Berlin und dem hier. Das mit dem Grün sagen ja auch die Menschen, die hier leben. Und dass es einem zu den Ohren rauskommt, muss ja nicht heißen, dass es nicht stimmt. Ich hatte den Eindruck, dahinter verbirgt sich noch etwas anderes, und zwar das Gefühl: Es ist noch mal gutgegangen! Und in der Tat: Wenn man sich die Industriegeschichte dieser Region anguckt, dann hätte auch alles ganz anders ausgehen können. Man ist froh, dass diese Welt hier nicht völlig kaputt ist, obwohl man jahrzehntelang intensiv daran gearbeitet hat. Wenn der Satz, wie grün es hier doch ist, so oft betont wird, liegt darunter vielleicht auch das Bewusstsein: „Wir haben dieser Erde etwas wirklich Schlimmes angetan, und es ist gerade noch so einmal gutgegangen“. Ja, und vielleicht gibt es eine kollektive Erleichterung darüber, dass der Strukturwandel in weiten Teilen funktioniert hat, dass man in der Region weiterhin leben kann, die Luft atmen und auf der Erde stehen kann, die weiterhin hält. Teilweise erfordert das ja sogar gigantische Anstrengungen, die Erde so grün zu halten, wenn man an die Wasserhaltung der alten Stollen und Bergwerke denkt.

Ihre Vorgängerin Eva von Redecker hat darauf aufmerksam gemacht, dass diese Region, anders als die meisten anderen, nicht durch fürstliche Gewalt und Vererbung zustandegekommen ist, sondern durch die Energiegewinnung, durch eine industrielle Geschichte statt einer adeligen.

Das ist etwas Tolles dran, etwas Kommunitäres und Demokratisches. Aber es hat auch eine andere Seite. Denn gleichzeitig geht damit auch die Bereitschaft einher, die Erde um jeden Preis auszubeuten. Wenn man nicht gewohnt ist, das Land, die Bauten und die Erde darunter seit dem 13. Jahrhundert zu erhalten und vielleicht auch noch für die nächsten 700 Jahre, dann ist man viel eher dazu bereit, alle Schätze aus der Erde rauszuholen, die man nur rausholen kann.

Haben Sie eigentlich völlig freie Hand bei Ihrer Erkundung des Ruhrgebiets?

Ja, ich glaube, mit einem eng gefassten Schreibauftrag könnte ich gar nicht arbeiten. Ich muss Zeit haben, mir meiner Wahrnehmung bewusst zu werden, ich brauche die Freiheit im Sehen, die Möglichkeit, mir verschiedene Blickwinkel, verschiedene Meinungen genau anzuschauen.

Sie haben bisher immer Essays und Sachbücher geschrieben, reizt Sie nicht auch mal das Fiktionale? Ganz und gar erfundene Erzählungen? Ein Roman?

Ja, doch! Das ist das große Projekt für die nächsten Jahre. Ich habe bereits mehrere Erzählungen geschrieben, die an verschiedenen Stellen, in Sammelbänden veröffentlicht wurden. Ein längeres fiktionales Werk in Buchform habe ich noch nicht geschrieben. Aber das ist etwas, das ich machen möchte. Die Form des Essays, wie ich sie mir in meinen Büchern erarbeitet habe, ist für mich vorläufig zu einem Ende gekommen. Zum einen möchte ich nicht immer wieder das Gleiche machen. Zum anderen stoßen wir mit der Fokussierung auf Ich-Erzählungen, und sei es in Essay-Form, vielleicht auch kulturell allmählich an eine Grenze. Wir haben momentan mit so drastischen Problemen zu tun, mit einer so dunklen Zukunftsaussicht, mit so dramatischen Gefahren, was unser politisches Miteinander, unser Zusammenleben betrifft, dass die reflektierende, nonfiktionale Ich-Erzählung vielleicht nicht mehr das richtige Mittel ist, um Menschen wachzurütteln, um erfolgreich zu kommunizieren und Möglichkeiten des Denkens und Erfahrens auszuloten. Vielleicht. Ich bin mir nicht sicher.

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Brauchen wir mehr Manifeste?

Ich glaube nicht. Aber ich frage mich, was wir brauchen. Als Schreibender ist man ja doch mit dem Problem konfrontiert, dass immer weniger Leute lesen. Und der Einfluss von Literatur schwindet. Ich denke viel darüber nach, eine Form des Schreibens zu finden, die auf eine gute Weise mit Lesenden kommunizieren kann.

Ah, Sie könnten eine Leerstelle füllen, von der ich nie geglaubt habe, dass es sie gibt. Aber einige meiner Kollegen haben vor etlichen Jahren immer nach dem einen, großen Ruhrgebietsroman gerufen. So wie republikweit der große Roman zur deutschen Einheit verlangt wurde.

(lacht) Faszinierend! Das ist offenbar eine kulturjournalistische Obsession, die in allen Ländern gleich ist. In Amerika ist es immer die „Great American Novel“, die seit Jahrzehnten alle zwei, drei Jahre gefordert wird. Ich glaube, dass Literatur überhaupt nicht so funktionieren kann, dass sich jemand vornimmt: So, jetzt schreibe ich den Roman, der das Ruhrgebiet oder Deutschland oder Amerika ganz beispielhaft abbildet. Aber ich lasse mich gerne vom Gegenteil überzeugen.

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