Oberhausen. Die Metropolenschreiberin Ruhr des Jahres 2023 verarbeitet in „Grabeland“ eine kaum bekannte Seite der NS-Geschichte: Seidenraupenzucht.

Nora Bossong, die in diesem Sommer mit ihrem Roman „Reichskanzlerplatz“ über die Karriere der NS-Propagandaministergattin Magda Goebbels für Debatten gesorgt hat (die einen halten ihn für eine Schmonzette, die anderen für eine originelle Perspektive auf die Nazi-Zeit), hat im vergangenen Jahr acht Monate lang als „Metropolenschreiberin Ruhr“ das Revier von heute etwas genauer kennenlernen können. Bereits 2012 hat sie in „Gesellschaft mit beschränkter Haftung“ eine Art Ruhrgebietsroman vorgelegt, in dem es um eine Essener Textilunternehmer-Dynastie geht, die schon die kaiserliche Armee mit Frotteehandtüchern ausstattete. Auch das Ergebnis von Nora Bossongs Recherche-Aufenthalt im Ruhrgebiet führt zurück in die Vergangenheit: Im ersten Theatertext ihrer schriftstellerischen Laufbahn „Grabeland“ geht es um ein scheinbares Randphänomen wie die Seidenraupenzucht in Gelsenkirchen – doch das Thema ist wiederum hochpolitisch: Wir schreiben das Jahr 1936, und an der Seidenraupenzucht wird die totalitäre Strategie des Nazi-Regimes wie im Brennglas deutlich. Das Stück kritische Heimatgeschichte kommt nun am 31. Oktober in der Regie von Intendantin Kathrin Mädler am Theater Oberhausen zur Uraufführung.

Die Geschichte im Schnelldurchlauf: Gelsenkirchen, 1936. Schorsch und Gustav, Kohlekumpel, haben einen Seidenraupenzüchterverein. Im Aufschwung-Jahr soll die Seidenraupenzucht finanziell durch die NS-Stadtverwaltung gefördert werden, um Deutschland bei der Erzeugung von Seide autark zu machen. Die Stadt pflanzt unzählige Maulbeerbäume – und auf Grabeland wird eine Großzuchtanlage für 500.000 Seidenraupen errichtet. Schorsch und Gustav wittern ihre Chance, der schweren Arbeit untertage und den ärmlichen Verhältnissen zu entfliehen. Nur Lotte, Schorschs Ehefrau, beschleicht dabei ein ungutes Gefühl, doch ihre Einwände gehen in der vielen Arbeit und den mitreißenden Aufmärschen mit Hitlergruß unter. Deutschland stehen wohlhabende Zeiten unter dem Führer bevor!

Nora Bossong zeigt die „Waffenkammer des Reiches“ von einer unbekannten Seite

Als sich wenige Jahre später der Zweite Weltkrieg anbahnt, wird das Ruhrgebiet zur „Waffenkammer des Reiches“. Auch die Raupenzucht wird vom Reichskriegsministerium weiterhin gefördert, denn die wertvollen Fäden werden unter anderem zur Herstellung von Fallschirmen benötigt. Die Seidenraupenzucht erweist sich in den Kriegsjahren als noch lukrativer als erhofft. Obwohl sich mit der Entwicklung des Krieges die allumfassende Zerstörung und die NS-Vernichtungsideologie nicht mehr leugnen lassen, profitieren Gustav, Schorsch und Lotte weiterhin vom Kriegsgeschehen – das Ehepaar zieht sogar in ein größeres Haus, das vormals einer jüdischen Familie gehörte. Doch welchen Preis werden sie für die wirtschaftliche Bereicherung am Ende zahlen müssen?

Nora Bossongs Stück kommt im Studio des Theaters Oberhausen am 31. Oktober (19:30 Uhr) in der Bühnenwelt von Franziska Isensee zur Uraufführung, dazu gibt es Musik von Cico Beck. Weitere Vorstellungen am 8. und 14. November sowie am 5. Dezember.