Essen. Können Hörspiele das Vorlesen ersetzen? Welche Themen eignen sich besonders? Zum Vorlesetag gibt Didaktikerin Alexandra Schotte Tipps.
„Zu Hause hatten wir so historische Kinder- und Jugendbücher nach der Jahrhundertwende“, erinnert sich Dr. Alexandra Schotte mit einem Lachen. „Die haben mich schon als kleines Mädchen fasziniert, vor allem wegen ihrer wunderschönen Illustrationen. Das Vorlesen war damals natürlich auch meine Einführung ins Lesen.“ Heute ist Dr. Schotte Erziehungswissenschaftlerin und Didaktikerin an der Universität Duisburg-Essen. Für viele sind die Momente des Vorlesens in der Kindheit unvergesslich – ein Gefühl von Geborgenheit, Fantasie und der Nähe zu den Eltern. Doch wie wichtig ist es eigentlich noch, Kindern vorzulesen? Welche Bedeutung hat das Vorlesen in der heutigen Zeit von Hörboxen und Podcasts? Diese und andere Fragen haben wir der Vorlese-Expertin zum bundesweiten Vorlesetag am 15. November gestellt.
Warum bleibt Vorlesen wichtig, auch wenn Kinder selbst schon lesen können?
Vorlesen hat einen enormen Übungscharakter. In dieser Phase brauchen Kinder oft noch eine gewisse Unterstützung und ein Gegenüber, das ihnen Mut macht. Durch das Vorlesen bekommen sie nicht nur die Bestätigung, die sie brauchen, um sich an längere Texte heranzuwagen, sondern auch ein Gefühl der Sicherheit. Die gemeinsame Zeit beim Vorlesen stärkt zudem die Bindung zwischen dem Kind und der vorlesenden Person.
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Was genau meinen Sie damit?
Beim Vorlesen geht es immer um Kommunikation – sowohl mit dem Text als auch mit der Person, die vorliest. Besonders bei jüngeren Kindern ist die Beziehung zur vorlesenden Person sehr wichtig. Diese Nähe schafft eine Atmosphäre, in der Kinder Vertrauen aufbauen und gleichzeitig spielerisch dazulernen können. Vorlesen ist dabei mehr als nur Leseförderung: Es öffnet den Kindern eine ganz neue Welt, in der sie Ideen und Themen entdecken, die sie vielleicht sonst nicht kennengelernt hätten. Oft entstehen aus dem Vorlesen Gespräche, bei denen Eltern und Kinder gemeinsam über die Inhalte nachdenken und reflektieren können.
Also geht es nicht nur um Sprach- oder Lesekompetenz, sondern auch darum, wie man die Welt wahrnimmt?
Absolut! Vorlesen bietet Kindern nicht nur sprachliche Anreize, sondern auch neue Perspektiven auf ihre Umwelt. Texte wirken oft wie ein „Filter“, durch den Kinder die Welt sehen und verstehen lernen. Sie eröffnen ihnen die Möglichkeit, die eigene Lebenswelt aus einem anderen Blickwinkel wahrzunehmen. Und das Lesen beginnt ja nicht bei null: Kinder nehmen ihre Umgebung aufmerksam wahr und stellen viele Fragen. Sie sind von Natur aus neugierig und möchten alles wissen, und genau das kann das Vorlesen auf eine ganz besondere Weise fördern.
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Laut der Stiftung Lesen lesen etwa ein Drittel der Eltern in Deutschland ihren Kindern im Alter von ein bis acht Jahren selten oder nie vor. Woran könnte das liegen?
Viele Eltern sagen, dass sie kaum Zeit haben oder dass ihre Kinder sich schwer zum Zuhören motivieren lassen. Das ist völlig verständlich, denn im Alltag ist es nicht immer einfach, das Vorlesen unterzubringen. Ein strenger Lesezwang wäre hier sicher auch nicht der richtige Weg. Stattdessen wäre es besser, das Vorlesen flexibel und positiv zu gestalten – indem man situativ auf die Stimmung und die Interessen des Kindes eingeht.
Was wäre denn zum Beispiel eine gute Situation?
Ein guter Moment fürs Vorlesen entsteht oft dann, wenn Kinder von sich aus Interesse zeigen – zum Beispiel nach einem Museumsbesuch oder einem Naturerlebnis. Wenn Kinder Fragen stellen oder sich für ein Thema begeistern, ist das eine natürliche Gelegenheit, um durch Vorlesen noch mehr Wissen zu vermitteln. Solche Momente lassen sich perfekt in einer ruhigen Atmosphäre gestalten, in der wenig Ablenkung herrscht. Klassische Vorlesezeiten, wie das Ritual vor dem Schlafengehen, schaffen zudem eine regelmäßige Routine und Geborgenheit. Aber man muss auch nicht immer auf den „perfekten“ Moment warten. Oft ist es besser, einfach spontan mit dem Vorlesen zu beginnen, wenn das Kind neugierig oder gerade gut drauf ist.
Was sollte man als Erwachsener beachten, der Kindern vorliest?
Wichtig ist, zuerst auf die Situation zu achten und eine Atmosphäre zu schaffen, in der man wirklich präsent ist. Kinder merken sofort, wenn man mit voller Aufmerksamkeit bei der Sache ist. Es hilft auch, auf die Interessen des Kindes einzugehen und gleichzeitig selbst Themen und Bücher einzubringen, um ihnen neue Perspektiven und eine breite Vielfalt zu eröffnen. Geduld ist dabei entscheidend, denn Kinder brauchen oft Zeit, um Fragen zu stellen und Zusammenhänge zu verstehen. Eltern müssen dabei nicht in eine „Kindersprache“ verfallen oder übertrieben betonen. Ein natürlicher, unbefangener Umgang ist meistens der beste Weg.
Wie kann das Vorlesen Menschen mit speziellen Förderbedarfen (z.B. Lese-Rechtschreib-Schwäche, ADHS) unterstützen?
Es ist wichtig, Vorlesezeiten ruhig und regelmäßig zu gestalten, um Überforderung zu vermeiden. Kleine Übungen wie Silbentrennungen oder Nachsprechen können hilfreich sein – aber immer ohne Druck, damit das Vorlesen weiterhin Freude macht. Eine klare, verständliche Sprache und kompakte Inhalte unterstützen die Konzentration und erleichtern es den Kindern, sich auf die Geschichte einzulassen.
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Welche Bücher oder Themen eignen sich besonders gut zum Vorlesen?
Es gibt verschiedene Ansätze, wie Geschichten für Kinder gestaltet werden sollten. Der Pädagoge Johann Friedrich Herbart zum Beispiel war der Meinung, dass Geschichten nicht kindlich „verniedlicht“ werden sollten. Er glaubte, dass eine künstlich kindliche Sprache weder Kinder noch Erwachsene wirklich anspricht und oft eher gezwungen wirkt. Stattdessen sollten Geschichten authentisch und lebensnah sein – auch ernste Themen und komplexere Figuren einbeziehen, weil „Gut und Böse“ manchmal zu einfach oder eindimensional ist.
Man kann sich auch fragen, warum bestimmte Bücher, wie die „Harry-Potter“-Reihe, so beliebt sind. Gerade Fantasy-Bücher sprechen viele Kinder und Jugendliche an. Sie verbinden fiktionale Welten mit alltäglichen Themen und Konflikten, die junge Leser gut nachvollziehen können. Figuren, die im Laufe der Geschichten mitwachsen und mit denen sich die Kinder identifizieren können, lassen die Kinder emotional in die Erzählung eintauchen. Aber manchmal spielt auch Werbung und Merchandise eine Rolle, das darf man nicht vergessen (lacht).
Viele Kinder haben Hörboxen oder hören mit Kopfhörern Bücher. Was ist der zentrale Unterschied zur „echten“ Vorlesesituation?
Der größte Unterschied zwischen Hörbüchern und einer „echten“ Vorlesesituation liegt in der Flexibilität und der persönlichen Interaktion. Hörbücher bieten den Vorteil, dass sie jederzeit abrufbar sind. Sie sind jedoch fix und nicht anpassbar. Eine „echte“ Vorlesesituation dagegen ist einzigartig und findet in einem ganz bestimmten Moment und Kontext statt. Der Vorlesende kann gezielt auf das Kind eingehen: Pausen machen, Stellen erklären oder wiederholen.
Kann das Vorlesen von Hörbüchern auch eine positive Rolle spielen, insbesondere für Eltern, die vielleicht selbst nicht so gut vorlesen können?
Jain. Hörbücher können eine positive Rolle spielen und bieten eine gute Abwechslung, da sie oft von professionellen Sprechern in hoher Qualität produziert werden. Dennoch ist es wichtig, dass Eltern ihre Hemmungen überwinden. Vorlesen ist nicht unbedingt eine Frage der Perfektion – Kinder nehmen die persönliche Verbindung und die gemeinsame Zeit viel mehr wahr als die „perfekte“ Lesetechnik. Eltern sollten sich nicht zu sehr unter Druck setzen.
Also ist ein Mix aus digitalen Medien und „echtem“ Vorlesen am besten?
Ja, definitiv. Das „echte“ Vorlesen hat eine besondere Unmittelbarkeit – man ist nah beim Kind, bekommt unmittelbare Reaktionen und kann flexibel auf dessen Bedürfnisse eingehen. Das ersetzt keine Technologie. Aber: Wir leben in einer medialen Welt, und digitale Medien gehören heute zur Alltagswelt. Es geht darum, ein gutes Maß zu finden.