Essen. 2022/23 lehrte die Künstlerin an der Folkwang Universität. Ein dicker Band dokumentiert die 54-Stunden-Performances ihrer Studierenden.
Eigentlich wollte Marina Abramović nicht mehr unterrichten. Was der berühmtesten Performance-Künstlerin der Welt in ihrem achten Lebensjahrzehnt niemand ernsthaft verdenken wird. Und doch: Sie erinnert sich noch genau an diesen verschneiten Sonntagmorgen in New York, als sie sich gerade einen Kaffee machte und Salomon Bausch sie anrief. Er fragte, ob sie als erste Künstlerin die nach seiner Mutter benannte Pina-Bausch-Professur an der Essener Folkwang-Hochschule annehmen wollte. Marina Abramović bat sich drei Tage Bedenkzeit aus, „aber als ich den Kaffee ausgetrunken hatte, wusste ich schon, dass ich das annehme.“ Sie habe alles von Pina Bausch gesehen, ihr sei es aber nie gelungen, sie zu treffen.
2022/23 gingen 24 Studierende von der Opernsängerin über den Jazz-Saxophonisten bis zur Tänzerin durch die harte Performance-Schule der Marina Abramović. Zwei hatten frühzeitig aufgegeben. Denn sie duldet keine halben Sachen, keine Unentschlossenheit: „Ich habe gelernt, ins Tun, ins Machen zu kommen und nicht beim Überlegen und Bedenken stehenzubleiben“, sagte ein Student. Im Grunde, ergänzt eine Kommilitonin, „geht es immer um Vertrauen, das ist mir klargeworden. Es war nicht immer alles perfekt, aber auch daraus haben wir gelernt.“
Marina Abramović verlangte von den Studierenden, sechs Stunden lang Reiskörner zu zählen
Für die Woche im Abramović-Institut im griechischen Karyes mussten sie alle elektronischen Geräte abgeben („An der Technik ist nichts falsch, aber unsere Abhängigkeit davon ist es“, sagt sie) und ein Fastenprogramm absolvieren. Mussten sechs Stunden lang Reiskörner zählen, drei Stunden lang Türen sehr, sehr langsam öffnen und schließen, mussten drei Stunden lang mithilfe eines Spiegels rückwärts gehen. Und am Ende geröstete Mandeln schälen und hacken, um daraus mit Pfeffer und Kardamom „goldene Bällchen“ zu backen, wie es tibetische Mönche am Ende ihrer Fastenzeit tun.
All dies dokumentiert nun ein dicker, schwerer 300-Seiten-Band, für dessen Vorstellung Marina Abramović am Samstag noch einmal nach Essen ins Folkwang Museum kam. Auch um zu schwärmen von den 54-Stunden-Performances, die alle ihre Eleven im Juni und Juli 2023 hier aufgeführt haben. Fast 10.000 Menschen sahen diese gewaltige Kunstanstrengung. Nur die Lehrerin selbst konnte damals nicht anreisen, weil sie nach einem Aneurysma und sechs Wochen Intensivstation Flugverbot hatte. Sie war aber als „sprechender Rollwagen“ dabei, erinnert sich Folkwang-Direktor Peter Gorschlüter schmunzelnd, ihr Assistent Billy Zhao habe ständig ein Laptop mit Verbindung nach New York durch die Museumsräume geschoben.
Salomon Bausch: Marina Abramović wusste gleich, dass sie die Beste für die erste Pina-Bausch-Professur sein würde
Salomon Bausch gab Marina Abramović recht, die früh gesagt hatte, für die erste Pina-Bausch-Professur habe man niemand besseren finden können als sie. Sie habe zwar im New Yorker Wohnzimmer der Künstlerin „den besten Schokoladenkuchen der Welt“ genießen dürfen, gestand NRW-Kultur- und Wissenschaftsministerin Ina Brandes; aber sie sei neidisch auf die Studierenden gewesen, die so viel Zeit mit der Performance-Ikone verbringen durften, dass sie „als Persönlichkeit und als Künstler über sich hinausgewachsen sind“. Immerhin hat eine der Opernsängerinnen gerade einen Wettbewerb in Paris gewonnen, und der in Serbien aufgewachsene Aleksandar Timotić, der im Folkwang zusammen mit dem Publikum Kartoffeln geschält und dazu Volkslieder gesungen hat (auch er kommt aus dem Opern-Fach), war mit seiner Performance gerade noch bei der Bangkok Art Biennale eingeladen.
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Was sie selbst als Nächstes plant, verriet Marina Abramović bei der Buchvorstellung im proppevollen Karl-Ernst-Osthaus-Saal des Folkwang: Im kommenden Jahr will sie für einen neuen Blick auf erotische Rituale des Balkans aus dem 9., 10. und 11. Jahrhundert sorgen und sie aus dem Ruch der Pornografie befreien. Da darf man wohl gespannt sein.
Das englischsprachige, gebundene Buch „Free Interdisciplinary Performance Lab. Pina Bausch Professorship 2022-23“ ist im Hatje Cantz Verlag erschienen, maßgeblich gefördert von der Essener Krupp-Stiftung. Es umfasst 250 Abbildungen von den Performances und der Vorbereitung sowie den Tagebuch-Text des Teilnehmers Francesco Marzano. Es kostet 54 Euro.