Essen. Das Buch „Ich will ich sein“ leuchtet anhand von Songtexten und mithilfe von Weggefährten Rio Reiser als deutschen Ur-Songpoeten aus.

Es gab davor und danach keinen mehr wie Rio Reiser. Das wird einem bei der Lektüre von „Ich will ich sein – Rio Reiser. Ausgewählte Songtexte“ noch einmal schmerzlich bewusst. Zwischen dem aufrührerischen Spät-68er-Agitpop von „Macht kaputt, was euch kaputt macht“ und einfühlsamen Liebesliedern wie „Halt dich an deiner Liebe fest“ hat der Frontmann von Ton Steine Scherben und spätere Solokünstler einen kaum je erreichten Standard dafür gesetzt, wie man in deutscher Sprache Songtexte schreibt: zornig-politisch und mit durchgedrücktem Rückgrat, von hellsichtiger Klarheit, charmant-schnodderig im Ton der Straße, dabei immer durchdrungen von einer utopischen Poesie und einem zärtlichen Mitgefühl für die Menschen.

Der auf (heimische) Popkultur spezialisierte Ventil-Verlag hat es sich mit „Ich will ich sein“ nicht zum ersten Mal zur Aufgabe gemacht, das lyrische Vermächtnis eines deutschsprachigen Musikers gebündelt zurück in die Öffentlichkeit zu tragen: In der Reihe „Ausgewählte Songtexte“ erschienen seit 2022 bereits Bücher zum Textschaffen von Carsten Friedrichs (Superpunk), Christiane Rösinger (Lassie Singers, Britta), Bernd Begemann und Frank Spilker (Die Sterne). Mit dem 1950 als Ralph Christian Möbius geborenen und mit nur 46 Jahren verstorbenen Rio Reiser widmet sich nun ein Band erstmals einem Künstler, der auch einem breiteren Publikum gut vertraut ist.

Ton Steine Scherben live 80er Jahre
Mit Ton Steine Scherben schuf Rio Reiser Hits wie „Macht kaputt, was euch kaputt macht“ oder „Halt dich an deiner Liebe fest“. Das Kollektiv mit Wurzeln im linkspolitischen Motiv stand bis in die 80er-Jahre hinein zusammen auf der Bühne. © picture-alliance / Jazzarchiv | Hardy Schiffler

„Ich will ich sein“: Ein Songtexte-Buch zusammengestellt von einem Fachmann

Ausgewählt hat die Rio-Reiser-Songtexte ein Kenner der deutschsprachigen Musikszene: Gunther Buskies hat als Gründer der Independent-Labels Tapete Records und Bureau B bereits Platten von Szenelieblingen wie Andreas Dorau, Fehlfarben oder Rocko Schamoni veröffentlicht. Zudem ist er bei Die Liga der gewöhnlichen Gentlemen selbst als Musiker aktiv und seit einigen Jahren auch Gesellschafter des Ventil-Verlags.

Buskies hat gute Arbeit geleistet: Schon, dass er als ersten Text „Mein Name ist Mensch“ von der zweiten Seite des Scherben-Debüts „Warum geht es mir so dreckig?“ von 1971 auswählt, spricht für seine Sachkenntnis – das leidenschaftliche Plädoyer für Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit der Menschen ist so etwas wie ein Ur-Song von Ton Steine Scherben. Auch danach fehlt unter den über 100 Texten nichts Entscheidendes, es geht nicht nur grob chronologisch durch die fünf Scherben-Alben und dann durch Rio Reisers Soloplatten, auch Raritäten sind berücksichtigt. Etwa das mitreißende „Ich bin müde“, eine Zusammenarbeit Reisers mit seinem musikalischen Wegbegleiter Wolfgang Michels, für die Reiser (inspiriert vom Film „Einer flog über das Kuckucksnest“) den Text schrieb und Michels die Musik. Die NDW-Abrechnung „Nicht nochmal“ vom Nachlass-Sampler „Am Piano I“. Oder spät wieder ausgegrabene Frühphase-Stücke wie „Asphaltcowboy“.

Zehnter Todestag von Rio Reiser
Rio Reisers Kunst war vielseitig, zornige politische Anklagen beherrschte er ebenso souverän wie zärtliche Liebeslieder. Dabei blieb der 1996 mit nur 46 Jahren verstorbene Musiker stets bodenständig, nahbar und empathisch. © picture alliance / dpa | Thomas Muncke

Anekdoten von Wegbegleitern wie Slime, Thees Uhlmann und Reinhard Mey

Das allein wäre spannend genug gewesen, um noch einmal nachzulesen (und -hören), wie sich Reiser mit Ton Steine Scherben von der „Jukebox der Linken“ wandelte zu einem Erzähler persönlicherer Geschichten, die oft hell schimmern, manchmal aber auch surreal und beinahe dadaistisch anmuten. Wie er später zum NDW-Sound unprätentiös das Politische in den Pop einschleuste und pathetisch-unpeinliche Liebeslieder wie „Für immer und dich“ schrieb, deren schlichte Schönheit noch heute das aufgesetzte Einerlei der Formatradio-Deutschpoeten entlarvt. Und wie sich in seinem Werk bis zuletzt der Wunsch nach Gerechtigkeit und Menschlichkeit aufs Sinnlichste ausdrückte, ohne dass er dabei in Kitsch abglitt oder den spitzbübischen Humor verlor.

Eine zusätzliche Ebene verleihen „Ich will ich sein“ jedoch die zahlreichen Gastkommentare von Wegbegleiterinnen und Wegbegleitern, die angedockt an einzelne Songtexte Erinnerungen, Anekdoten oder allgemeine Verehrung für Rio Reiser teilen. Spannend sind vor allem die Beiträge der Scherben-Mitglieder, in denen unter anderem Schlagzeuger Wolfgang Seidel, Bassist Kai Sichtermann und Gitarrist R.P.S. Lanrue (und einmal sogar Reiser selbst) einen Blick hinter die Kulissen von Songs wie „Sklavenhändler“, „Allein machen sie dich ein“ oder den „Rauch-Haus-Song“ gewähren. Am deutlichsten stechen aber die Beiträge von Reisers Bruder Gert Möbius und seiner Nichte Cäcilie Möbius heraus: In berührenden Worten erzählen beide von der Bedeutung der Stücke „Übers Meer“ und „Du bist es“ für sich und ihre Familie.

„Ich will ich sein – Rio Reiser. Ausgewählte Songtexte“ aus dem Ventil-Verlag bündelt das lyrische Schaffen des Musikers und Frontmannes von Ton Steine Scherben und stellt ihm Gastkommentare von Weggefährten zur Seite. © Ventil-Verlag | Ventil-Verlag

Rio Reiser, die Naturgewalt

Ansonsten reichen die Würdigungen von unterhaltsam bis philosophisch, von intellektuell bis emotional. Deutlich machen sie dabei vor allem, was für unterschiedliche Szenen und Persönlichkeiten Rio Reiser beeinflusst hat: Punks wie die Straßenkämpfer Slime, die Ska-Vertreter Rantanplan und die Feministinnen Östro 430, Hamburger Schule-Zugehörige wie Die Sterne und Bernadette La Hengst, Deutschrocker wie Selig und Stoppok, den Electro-DJ Hans Nieswandt und die Synthiepopper Stereo Total, zeitgenössische Indierocker wie Thees Uhlmann, den jungen Post-Popper Betterov, Liedermacher Reinhard Mey und Prinzen-Sänger Sebastian Krumbiegel – sie alle haben sich im Werk von Rio Reiser wiedergefunden, haben oft auch etwas von ihm in ihre Kunst überführt.

„Rio Reiser war der einzige erträgliche Rocksänger“, schreibt an einer Stelle des Buches Schorsch Kamerun, mit den Goldenen Zitronen schon lange Teil der deutschen Gegenkultur und nie um ein klares Wort verlegen. Nach der neuerlichen Begegnung mit Reisers lyrischem Schaffen in diesem gelungenen Werk ist man geneigt, zuzustimmen: Als deutschsprachiger Songtexter war und bleibt Rio Reiser eine gleißende Ausnahme – eine Naturgewalt inmitten von lauen Lüftchen.

„Ich will ich sein – Rio Reiser. Ausgewählte Songtexte“, Ventil-Verlag, 240 Seiten, 20 Euro, erhältlich ab 25. Oktober 2024.