Düsseldorf. Die Düsseldorferin ist für den Deutschen Buchpreis nominiert. Im Interview spricht sie über ihre Erwartungen und den Roman „Antichristie“.

Die Düsseldorfer Autorin Mithu Sanyal ist Nordrhein-Westfalen im Gegensatz zu vielen ihrer schreibenden Kolleginnen und Kollegen treu geblieben. In diesem Jahr darf sie auf den Deutschen Bücherpreis hoffen. Nominiert ist ihr Roman „Antichristie“, der seine Heldin Durga auf eine Reise in die Vergangenheit schickt: Gerade noch hat sie sich einer Woke-Modernisierung der Agatha-Christie-Romane gewidmet, da findet sie sich 1906 inmitten von indischen Revolutionären wieder. Derzeit steht das Buch auf der Longlist für den Buchpreis, am 17. September wird die Shortlist mit den letzten sechs Kandidaten und Kandidatinnen veröffentlicht. Wer Mithu Sanyal live erleben möchte: Am Samstag, 12. Oktober, liest sie um 19.30 Uhr im Rahmen der Lit.Ruhr im Schauspielhaus Bochum aus „Antichristie“. Mit uns sprach sie über ihre Hoffnungen und den richtigen Widerstand.

Sie sind jetzt zum zweiten Mal für den Deutschen Buchpreis nominiert, ihr erster Roman „Identitti“ stand 2021 auf der Shortlist. Wie fühlt sich das an?

Traumhaft. Das ist ein wenig wie Wunscherfüllung! Und das noch bevor das Buch erschienen ist. Es kommt ja offiziell erst zur Shortlist heraus. Und inzwischen bin ich die bessere Schriftstellerin, man lernt schließlich immer dazu.

Reagiert man „beim zweiten Mal“ gelassener?

Nein, ich bin tatsächlich aufgeregter. Jetzt weiß ich, wieviel für alle daran hängt, wie es sich in dieser Halle anfühlt und habe das Adrenalin einmal eingeatmet. Aber man kann das Ergebnis ohnehin nicht beeinflussen. Es ist auch ein bisschen Glücksspiel, das muss man im Kopf behalten.

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Was bedeutet Ihnen die Nominierung?

Ich bin sehr dankbar dafür, weil sie es dem Buch einfacher macht. Thematisch setzt sich mein Roman mit den Folgen von Kolonialismus auseinander, mit dem indischen Widerstand gegen die Kolonialmacht Großbritannien. Gerade im Moment, wo Postkolonialismus in den Medien fast verdächtig ist und die AfD ihn abschaffen will, ist die Nominierung ein wichtiges Zeichen: Man muss das Thema nicht mehr rechtfertigen.

Ein spezielles Thema. Wie sind Sie darauf gekommen?

Durch einen Vortrag auf YouTube, in dem ein bekannter indischer Autor erklärte, dass der indische Widerstand keineswegs immer friedlich war, sondern auch gewalttätig. Und ohne den bewaffneten Widerstand wäre Indien vermutlich viel länger britische Kolonie geblieben. Das war für mich erschütternd, weil ich immer gelernt hatte, dass wir den richtigen, weil gewaltfreien Widerstand geleistet hatten.

Und das hat Ihre Fantasie in Gang gesetzt?

Es hat mich nicht mehr losgelassen. Und es gibt keine Möglichkeit, sich intensiver mit einer Sache auseinanderzusetzen, als einen Roman darüber zu schreiben. Die Figuren entwickeln ja ein Eigenleben. So sieht man viele Dinge, auf die man ansonsten nicht kommen würde.

Wie sind Sie vorgegangen?

Ich habe sehr aufwändig recherchiert und viele Gespräche geführt, unter anderem mit Professoren in Indien. Insgesamt war ich drei Jahre lang mit dem Buch beschäftigt.

Was hat die Geschichte mit Ihnen zu tun?

Mein Vater stammt aus Indien und alle seine Freunde haben mit Gandhi gearbeitet. Auch wenn viele von ihnen damals noch Kinder waren, in ihrem Selbstbild war das so. Und auch in meinem politischen Selbstverständnis ist Gewaltfreiheit ein ganz großer Wert. Das alles fließt in die Erzählung ein. Ein Roman ist ja immer eine ganze Welt.

Es steckt viel von Ihnen in der Figur der Durga, oder?

Man schöpft aus dem, was man hat. Aber ich reise in meinem Buch nicht als Hauptfigur durch die Zeit. Ich bin alle Figuren. Und ich bin alle nicht. Es gibt keine Figur, die nichts von mir hat. Sonst wäre sie blutleer.

Zur Person

Die Kulturwissenschaftlerin, Journalistin und Autorin Mithu Sanyal ist 1971 in Düsseldorf geboren. Ihre Themenschwerpunkte sind Feminismus, Rassismus, Popkultur und Postkolonialismus.

Sie schrieb zunächst Sachbücher („Vulva - die Enthüllung des unsichtbaren Geschlechts“, „Vergewaltigung. Aspekte eines Verbrechens“). Mit ihrem Roman-Debüt „Identitti“ stand sie 2021 auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. Das Buch wurde im selben Jahr mit dem Ernst-Bloch-Preis ausgezeichnet und erhielt den Literaturpreis Ruhr.

Wie kommt der Titel „Antichristie“ zustande?

So hieß anfangs nur ein Kapitel, weil die Hauptfigur die Krimis von Agatha Christie in einem Writers-Room antirassistisch für eine neue Fernsehserie adaptieren soll. Dagegen gibt es eine Menge Protest, nach dem Motto: Das ist alles Cancel Culture. Aber die Metapher „Antichrist“ taucht an vielen Stellen auf. Meine Hauptfigur trifft 1906 den indischen Revolutionär Savarkar, der war für mich in meiner Kindheit der Antichrist, das Böse. Denn Savarkar ist nicht nur antikolonialer Revolutionär, sondern auch der Vater des Hindu-Nationalismus. Er galt damals als Anti-Gandhi. Er war derjenige, der den bewaffneten Widerstand gefordert hat.

Widerstand ist in ihrem Buch ein wichtiges Thema…

Es geht ja um Fragen, die wir uns auch heute stellen: Was ist der richtige Widerstand? Sind das Terroristen, sind das Widerstandskämpfer? Die meisten sind ja Terroristen, bis sie gewonnen haben – und dann gelten sie als Widerstandskämpfer. Nelson Mandela etwa stand noch lange auf den Terrorlisten der USA.

Was ist der richtige Widerstand?

Das ist eine schwierige Frage und gibt es überhaupt den perfekten Widerstand? Aber für mich ist wichtig, dass in dem Widerstand, den wir leisten, die Idee einer Gesellschaft enthalten ist, die auf Gewaltfreiheit basiert. Es geht nicht nur darum, eine Gruppe von Herrschenden durch eine andere zu ersetzen. 

Was kann die Literatur innerhalb einer Gesellschaft leisten?

Es gibt einen tollen Essay mit dem Titel: Fakten ändern unsere Ansichten nicht, das können nur Freundschaften. Wenn wir von Menschen erwarten, dass sie ihre politischen Überzeugungen ändern, dann erwarten wir, dass sie sich gegen ihr gesamtes Umfeld stellen. Natürlich sperren sie sich dagegen. Literatur dagegen ermöglicht es uns, durch die Augen von Figuren schauen, ohne unsere Identität aufzugeben. Dabei müssen sie uns nicht einmal sympathisch sein! Das ist auch wichtig für mein Buch. Gandhi etwa war mir unglaublich sympathisch, aber bei meiner Recherche war ich enttäuscht von Seiten, die ich bisher nicht kannte. Und Savarkar, den ich politisch falsch finde, hat einige beeindruckende Dinge gemacht. Aber das Leben ist eben nicht schwarzweiß, sondern viel komplexer, je mehr man hinschaut.

Was ist Ihnen wichtig?

Ein Buch sollte einen warmen Blick auf die Welt werfen, keinen zynischen. Es sollte Verbindungen schaffen, keine Verbindungen kappen. Und ich will auch mit meinem Roman unterhalten; es soll Spaß machen, ihn zu lesen. Er ist lang, aber man kann ihn hoffentlich so runtersnacken.

Der Deutsche Buchpreis wird am 14. Oktober verliehen. Wie sehen Sie ihre Chancen?

Beim letzten Mal habe ich nicht damit gerechnet, zu gewinnen. Das war mein erster Roman und ich war überwältigt, überhaupt nominiert zu sein. Das ist diesmal ein bisschen anders. Ich sehe mich als echte Schriftstellerin. In „Antichristie“ steckt so viel Herzblut und ich würde es ihm so sehr wünschen, auf die Shortlist zu kommen.

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