Essen. Das Buch „Schlussakkord. Wie Musiklegenden für immer verstummten“ erzählt vom Tod großer Künstler – informativ, morbide, menschlich.
Der Rock’n’Roll liebt seine Toten. „Sie wollen tote Helden wie Sid Vicious und James Dean. Ich habe kein Interesse daran, ein verdammter toter Held zu sein“, sagt der ehemalige Beatle John Lennon im Interview mit dem US-amerikanischen Musikmagazin Rolling Stone. Es ist der 5. Dezember 1980. Lennon wirkt lebenshungrig und scharfsinnig, geißelt die „Götzenanbetung“, die morbide Lust, mit der die Öffentlichkeit nur aufstrebende oder verstorbene Musiker verehrt. Drei Tage später schießt der 26-jährige Mark Chapman vor einem Apartment-Gebäude in New York fünf Mal auf Lennon. Der Musiker stirbt keine halbe Stunde später im Krankenhaus – und wird über Nacht zu jener Art Ikone, die er nie sein wollte.
Auch diese Geschichte erzählt Journalist Ingo Scheel in seinem neuen Buch „Schlussakkord – Wie Musiklegenden für immer verstummten“ natürlich – zusammen mit 29 weiteren tragischen Schicksalen von Musikerinnen und Musikern, die der Tod vor ihrer Zeit ereilte. In der Einleitung berichtet der Autor, wie er als Zehnjähriger auf einer Ferienfreizeit vom vermeintlichen Tod von Suzi Quatro erfuhr; die Nachricht habe ihn „in einen solchen Schockzustand versetzt, als wäre ein Verwandter oder Freund gestorben“. Auch später brennen sich ihm die Tode geschätzter Musiker ein, werden Teil seiner Biografie. Diesen emotionalen Zugang zum Ableben geliebter Idole lässt das Buch zu, will ihm gleichzeitig aber auch etwas entgegensetzen: die Verengung der Künstlerbiografien auf den Tod wieder aufbrechen, sie als Menschen wieder sichtbar machen.
„Schlussakkord“ von Ingo Scheel behandelt auch Amy Winehouse jenseits der Sensationslust
Das ist in mehrfacher Hinsicht riskant: Was will man 2024 noch schreiben über das Ende von Legenden wie Jimi Hendrix, Kurt Cobain oder Amy Winehouse, ohne einfach nur sattsam Bekanntes wiederzukäuen? Und wie umschifft man die geschmacklose Sensationslust, von der Lennon schon 1980 sprach?
Scheel, der seit gut 30 Jahren als Musikjournalist arbeitet und für Fachmagazine wie „Musikexpress“ und „Visions“ schreibt, gelingt in beiden Fällen ein Spagat: Im Schnitt bekommt jeder „Fall“ nur acht groß bedruckte Buchseiten, die Künstlerleben gibt der Autor stark gerafft und hochverdichtet wieder, Langeweile ist schon durch die Form ausgeschlossen. Auch auf diesem engsten Raum findet er aber immer wieder überraschende Perspektiven und Anekdoten. Zudem hat er seine Protagonisten präzise recherchiert und erzählt nun sehr detailreich; gerade die Passagen, die auf das Ableben zulaufen, lesen sich manchmal wie eine Mischung aus Polizeireport und True-Crime-Krimi. Das passt gut insbesondere zu jenen „Cold Cases“ der Popgeschichte, die sich zwischen Unfall, Mord und Lebensmüdigkeit nie ganz klären ließen.
Fesselnder Schmökerstoff über Buddy Holly, Bob Marley, Keith Moon und viele mehr
Ohnehin stimmt auch der Ton des Buches: Jedes Kapitel wird mit einem Songzitat – meist aus dem jeweiligen Werk – eingeleitet, das die eigene Endlichkeit anklingen lässt und damit wie ein wehmütiges Menetekel über den Geschichten thront. Dazu gesellen sich dunkle Kohlezeichnungen der Verstorbenen, die vage an Käthe Kollwitz erinnern und in ihrer leichten Verfremdung schon wie ein Gruß aus einer anderen Sphäre wirken. Im Text von Autorenprofi Scheel pocht derweil laut das Herz eines leidenschaftlichen Musikfans, er ist nah an der Floskel gebaut (punktuell hätte das auch sonst mal unsaubere Lektorat da noch eingreifen dürfen) und macht aus den oft düsteren Ereignissen einen fesselnden Schmökerstoff mit Schmäh – der aber dennoch respektvoll mit den menschlichen Tragödien umgeht. Wie Scheel etwa über die frühen Jahre von Marvin Gaye schreibt, ist mitreißend mitfühlende Sachbuch-Prosa.
Fast interessanter als die Kapitel über die großen Ikonen sind in „Schlussakkord“ die Namen aus der zweiten und dritten Reihe wie Schlagerstar Alexandra oder Beatles-Assistent Mal Evans. Aber natürlich darf man trotzdem nochmal fasziniert sein von der erhabenen Größe Bob Marleys und dem abwärtsstrudelnden Jim Morrison, vom jähen Ende Buddy Hollys am „Tag, als die Musik starb“, und von „Mama“ Cass Elliot und The Who-Schlagzeuger Keith Moon, die um ein paar Jahre zeitversetzt im gleichen Bett starben.
Der Mythos des Rock’n’Roll – und die traurige Realität dahinter
Das alles verspricht eher informative Unterhaltung als höhere Erkenntnis. Und doch kommt letztere mit der Zeit: Je länger man sich einlässt auf diesen Exzess aus Drogen und Selbstzerstörung, der Rock’n’Roll dem Mythos nach immer war und den „Schlussakkord“ nahezu unkommentiert und mit Cliffhangern am Ende jedes Kapitels in Reihe serviert, desto mehr zweifelt man: Waren diese Tode so unausweichlich, wie es in der Rückschau gern erscheint? Kann die allergrößte Kunst nur aus jenem Extrem geboren werden, das einen schließlich verschlingt? Darf man all die viel zu früh verblichenen Musikerinnen und Musiker als notwendigen Tribut auf dem Altar des Rock betrachten?
Jede weitere Geschichte entzaubert diesen absurden Irrglauben etwas mehr, offenbart das Musikgeschäft als unbarmherzige Knochenmühle, in der gerade die Sensiblen, Kreativen für Geld und zur Unterhaltung verschlissen werden wie ein billiger Rohstoff. In Büchern und Artikeln ist heute schon mal zu Recht die Rede vom „Todeskult“ Rock. Wenn etwa über die Mitglieder des „Club 27“ der mit 27 Jahren verstorbenen Musikhelden gesprochen wurde, überwog zu oft Ehrfurcht die Bestürzung – fast so, als sei der frühe Tod der krönende Schöpfungsakt einer unsterblichen Karriere und kein schreckliches Drama.
„Schlussakkord“ zwingt einem diese Erkenntnis nicht auf, hält aber auch genug Abstand zur von John Lennon verhassten Legendenbildung. Hoffentlich nicht zum letzten Mal: Eine Liste mit 30 weiteren Namen liegt laut Autor Ingo Scheel noch in der Schublade, für eine mögliche Fortsetzung.