Essen. Der Erfinder der Menschenwürde und der Uno schrieb Übles über Afrikaner und Indianer. Dabei kannte er doch fast nur Königsberg.
Und er bewegte sich doch außerhalb von Königsberg: Immanuel Kant lebte vier Jahre in Groß Arnsdorf, fast 150 Kilometer von Königsberg entfernt; er war in Judtschen (rund 100 Kilometer weit weg) oder auch in Wohnsdorf (etwa 80 Kilometer entfernt). Und besonders oft in Capustigall, zwei Meilen vor Königsberg: Als Gast des Grafen Heinrich Christian von Keyserlingk, an dessen Tafel er stets den Ehrenplatz neben der philosophisch und musisch interessierten Gräfin Caroline Charlotte genoss. Kant, der großen Wert auf Mode legte und nur Farbkombinationen trug, die in der Natur vorkommen, bewegte sich elegant in der höheren Gesellschaft. Was ihn nicht davon abhielt, jene Revolution zu begrüßen, die in Frankreich so manche aus der High Society den Kopf kostete.
Kant, der heute vor 300 Jahren in Königsberg als Handwerkersohn zur Welt kam, legte wie kaum ein zweiter das denkerische und moralische Fundament der heutigen bürgerlichen Gesellschaft. Der in seiner Bedeutung kaum zu überschätzende Artikel 1 des deutschen Grundgesetzes „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ geht auf Kants „Erfindung“ der Menschenwürde in seiner „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ (1785) zurück: „Handle so, dass du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchtest.“
Der „Kategorische Imperativ“ von Immanuel Kant wird oft missverstanden
Letztlich ist dies eine Variation seines „Kategorischen Imperativs“, den man missverstehen würde, wenn man darin nur eine philosophische Übersetzung der Volksweisheit „Was Du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu“. Es geht darum, mit der Vernunft zu prüfen, ob der Grundsatz, der dem eigenen Handeln zugrundeliegt, für alle gültig sein sollte: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ Da geht es nicht um die einzelne Tat, es geht um das Prinzip, aus dem sie folgt.
Kant – ein Leben in Daten
22. April 1724 Geburt im ostpreußischen Königsberg als viertes von elf Kindern des Sattlermeisters Johann Georg Kant
1732-1740 Schüler am Collegium Fridericianum
1740 Studium der Naturwissenschaften, Mathematik und Philosophie an der Albertus-Universität in Königsberg
1748-1754 Hauslehrer in Judtschen, Groß Arnsdorf und Rautenburg
1755 Promotion zum Magister an der Albertus-Universität und Beginn seiner Lehrtätigkeit dort als Privatdozent
1770 Ordentlicher Professor für Logik und Metaphysik
1781 „Kritik der reinen Vernunft“
1784 Essay „Was ist Aufklärung?“
1788 „Kritik der praktischen Vernunft“
1790 „Kritik der Urteilskraft“
1795 „Zum ewigen Frieden“
1797 „Metaphysik der Sitten“ und Ende der Lehrtätigkeit
12. Februar 1804 Tod in Königsberg
Ebenfalls bis heute wirksam, wenn auch anders gedacht als sie heutzutage umgesetzt wird, ist Kants Idee der Vereinten Nationen. In seinem späten, wegweisenden „philosophischen Entwurf“ mit dem Titel „Zum ewigen Frieden“ (1795) werden sie noch „Völkerbund“ genannt (so hieß denn auch die Vorgänger-Organisation der Uno). Einen „Völkerstaat“ lehnte Kant jedoch ab, weil ein solcher in die für ihn unverzichtbare Souveränität der Einzelstaaten eingreifen müsste, die er sich als Republiken dachte – zu einer Zeit, da Frankreich, die einzige Republik weit und breit war.
Kants Hauptwerk „Kritik der reinen Vernunft“ ist auch eine Erkenntnis-Theorie
Der große, 1,57 Meter kleine Philosophieprofessor befreite die Moral(-Philosophie) aus den Klauen der Theologie. Er setzte die menschliche Vernunft an die Stelle Gottes und kirchlicher Doktrinen. Gott und Religion fingen für ihn dort an, wo die Grenzen der Erkenntnis erreicht waren. Was wir wissen können und was nicht, hat wohl niemand genauer definiert als Kant in seinem Hauptwerk, der „Kritik der reinen Vernunft“ (1781). Die war auch eine höchst abstrakte Erkenntnistheorie, in den Schlussfolgerungen, die der Verstand aus Anschauung und Erfahrungen ziehen kann. Dabei war stets klar, dass jede Erkenntnis nur eine vorläufige sein kann, die sich im Wettstreit der Argumente bewähren muss: Erkenntnis ist kein Zustand oder Besitz, sondern ein Prozess.
„Italiäner“, Spanier, Franzosen, Araber, Perser, Afrikaner, Indianer: Kants rassistische Auslandskunde
Bei so viel Einsicht in Wissen und Moral nimmt es umso mehr Wunder, wie weitschweifig und urteilsfreudig sich Kant über Nationalitäten geäußert hat: In seinen „Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen“ schwadroniert er voller Klischees und Vorurteile über „Völkerschaften unseres Welttheils“: Spanier etwa hätten „wenig Gefühl für die schönen Künste und Wissenschaften“, seien aber „ernsthaft, verschwiegen und wahrhaft“ – allerdings neigten sie dazu, „den Pflug stehen zu lassen und mit einem langen Degen und Mantel so lange auf dem Ackerfelde zu spazieren, bis der vorüber reisende Fremde vorbei ist“. So geht es weiter über „Italiäner“, Franzosen, Engländer und Holländer, bis Kant auch zu fernen Weltteilen kommt und sich zu dem satirereifen Satz aufschwingt, den schon die „Neue Frankfurter Schule“ aufgespießt hat: „Wenn die Araber gleichsam die Spanier des Orients sind, so sind die Perser die Franzosen von Asien.“
Schon der James-Cook-Begleiter Johann Georg Forster wies Immanuel Kant zurecht
Was Kant dann über Afrikaner und die Ureinwohner Amerikas schreibt, ist blanker Rassismus – was ihm schon sein Zeitgenosse Johann Georg Forster vorhielt, der mit 17 als Zeichner zur Südsee-Expedition von James Cook gehörte. Der Denker in Königsberg hingegen reiste stets im heimischen Sessel, wenn auch sehr ausgiebig: Reisebeschreibungen las er nicht nur viele, er las sie auch so intensiv, dass er in der Lage war, Örtlichkeiten etwa in London en detail so genau zu schildern, dass Engländer ihn fragten, wie lange er dort gelebt habe.
Ausgerechnet Kant aber scheint derlei Reiseberichte unkritisch gelesen zu haben und verstößt bei seinen gelehrt klingenden Schlussfolgerungen daraus gegen die eigenen Prinzipien von Vernunft, Menschenwürde und Urteilskraft. Vielleicht war es der Ehrgeiz, auf allen Feldern Lorbeer zu ernten, der einen Kant in Widerspruch mit sich selbst brachte. Schon als Jugendlicher wollte sich niemand mehr auf eine Partie Billard oder das Kartenspiel „L‘Hombre“ mit ihm einlassen, sobald es um Geld ging: Kant hatte sie alle geschlagen.
Immanuel Kant, „der bestirnte Himmel über mir, und das moralische Gesetz in mir“
Jenseits seines fast sekundengenau abgezirkelten Tagesablaufs, nach dem die Königsberger ihre Uhren stellen konnten, soll er ein witziger, geistreicher Gesellschafter gewesen sein. In seinen Büchern ist davon kaum etwas zu merken; gerade seine Hauptwerke sind in einem ungeheuer umständlichen, papiernen Kanzleistil geschrieben, der heute bei aller Präzision beinahe ungenießbar ist. Einer der wenigen mit Poesie angehauchten Sätze, der das Schlusskapitel seiner „Kritik der praktischen Vernunft“ einleitet, ist denn auch gleich zum geflügelten Wort geworden: „Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte Himmel über mir, und das moralische Gesetz in mir.“
Praktisch wurde Kants Vernunft, die bis heute Heerscharen von Philosophieprofessoren beschäftigt und auch unser Denken noch beeinflusst, aber auch in ganz anderer Hinsicht: Während seiner vier Jahre in Groß Arnsdorf erzog er die drei Söhne des dortigen Gutsherren. Der jüngste unter ihnen befreite als Erwachsener seine Bauern aus der Leibeigenschaft.