Essen. Hunderte streben ans Dirigentenpult, wenige kommen durch. Vier Studenten dürfen diese Woche mit Profis proben, am Aalto Theater Essen
Anders als ein Geiger hat der aufstrebende Dirigent von morgen ein gewisses Problem beim Üben. Sein Instrument sind: viele. Woher gut 80 Profis nehmen, um ein Lohengrin-Vorspiel je unter Real-Bedingungen aufblühen zu lassen?
„Wie will man lernen, mit einem Opernchor umzugehen, wenn man es noch nie gemacht hat?“, fragt Lukas Siebert. Er ist 28 und hat Glück. Er kann es machen, jetzt, ganz oben. In Etage vier des Essener Aalto Theaters erwarten (sehr geduldig) ihn die Sängerinnen und Sänger des Opernchores. Verdi, „Macbeth“: Siebert hat gut 20 Minuten, um zu zeigen, ob das, was er will, auch klingt, wie es soll. Ob er überzeugen kann. Und ob er richtig liegt: Seelenruhig wacht ein gertenschlanker Riese im Hintergrund über Siebert. Es ist Klaas-Jan de Groot, der „echte“ Chef des Chors. „Schöne Idee“, sagt der irgendwann mittendrin, „aber wie erklärst Du das später dem Dirigenten?“
Forum Dirigieren: Junge Talente erproben sich in Essen
Diese Woche ist das Aalto Theater Gastgeber für vier Menschen, die Dirigent oder Dirigentin werden wollen, beim „Forum Dirigieren“, einst erfunden von Kurt Masur (heute liegt es in Händen des Deutschen Musikrates) für Nachwuchstalente. Talent hat das Kleeblatt längst bewiesen. Diese vier kamen durch; am Anfang stand mindestens das Zehnfache an Kandidaten. Alle maximal 28 Jahre alt, alle an deutschen Hochschulen.
Eine Auslese in Etappen. Dirigier-Videos haben sie eingeschickt, strengen Vorjurys, so Siebert, „gezeigt, wie toll man proben kann“. Ach, Proben: An der Uni sind zwei Klaviere schon ein Luxus, um Opern-Koordination zu simulieren. Also eigentlich ist das: Backen ohne Mehl. „Das ist das große Problem“, sagt Siebert, klar übe man trocken, Taktfiguren, Staccato, Legato. Und doch allzu oft „weit entfernt, die echte Situation zu spiegeln“.
Vier junge Dirigier-Talente fördert der Deutsche Musikrat. Austragungsort ist Essen
Und nun ist es echt, hier in Essen, wo die vier von Verdi bis zur Fledermaus erfahren, „was da wirklich passiert“. Bei „Macbeth“ ist Lukas als letzter dran, es hält ihn kaum auf dem Wartesitz. „Das Warten ist schlimmer als das Machen“, weiß er von sich selbst, „man ist derart voller Adrenalin, voller Tatendrang . . . “
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Dann tritt er vor den Chor. Er verhakt sich nicht gleich in Feintuning, lässt der Schotten Klage machtvoll aussingen. Siebert wählt die theatralische Geste, Typ Musikdramatiker, Solo-Einsätze singt der studierte Tenor selbst hinein. Da hat er ihn: einen echten, fantastisch klingenden Chor. Und mit Lust zitiert er beim Fortissimo eine der Sopranistinnen, die vorhin noch befand: „Wenn man schon mal einen Porsche unterm Arsch hat, muss man ihn auch ausfahren.“
Weniger prosaisch gesagt ist es Magie: Da hebt einer die Hand – und ein Saal bebt im Klang von 40 schönen Stimmen. „Wir sind alle süchtig danach“, sagt er über seinen Beruf, „es ist total cool, aber es ist auch eine enorme Verantwortung. Wer je im Chor oder Orchester gespielt hat, der weiß ja, wie Dirigenten einen nerven können.“
Genervt wirken die Damen und Herren des Chors nicht. Da ist viel Wohlwollen im Raum, aber nicht im Sinn von Welpenschutz. „Die können ja alle viel“, sagt ein Bass später, „man muss sich schon einlassen auf Korrekturen und Ideen“. Lukas Siebert ruft einfach „Danke!“, als sein Drittelstündchen um ist. Am Tag darauf geht es weiter. „Praxis ist alles“, sagt er, nennt das Dirigierforum „genial“. Man darf es sich als Olymp vorstellen: Allein von deutschen Hochschulen strömen jährlich 100 neue auf einen Markt, in dem Takt allein längst nicht alles ist.