Essen. An diesem Wochenende ist Volkstrauertag. Wir alle werden geflutet von Schreckensnachrichten des Krieges. Stumpfen wir ab? Was tun wir damit?
„Der Erste bringt dich zum Weinen. Der Zweite macht dich traurig. Den Dritten registrierst du kaum noch, und schon … entdeckst du an dir eine Unempfindlichkeit, die du niemals haben wolltest.“ Igor Memic, bosnisch-britischer Dramatiker, in „Die alte Brücke“. Er ist geboren in Mostar.
Der 7. Oktober, an dem eine Terror-Invasion der Hamas unsere Welt veränderte, war der Tag, an dem die Ukraine ihren täglichen Nachrichtenplatz in der Tagesschau verlor. Eine Schreckensnachricht sortierte eine andere ins zweite Glied. Es gibt diesen unsichtbaren Trichter aus Hiobsbotschaften. Und immer wenn neue hinzugekommen, treibt es die anderen in eine Enge, die nah an der Unsichtbarkeit ist, bis sie unten herausfallen.
Ein Google-Experiment: Die Begriffe „Afrika und Hungersnot“ sind geradezu verschwistert; wählt man indes das Sieb „NEWS“ (Neuigkeiten) ist der letzte Treffer ein Vierteljahr alt – wir reden von fast 50 Millionen Menschen in lebensbedrohlicher Lage.
Man kann Gedenktage für Opfer und solche, die es bald sein könnten, für wertlos erklären, für Nötigung zum Ritual, dem wie jedem die Gefahr der Aushöhlung innewohnt. Oder ist es umgekehrt? So voll diese Welt von Heillosigkeit ist, so sehr müsste jeder Tag einer sein.
Volkstrauertag in Deutschland. Haben wir bei so vielen Nachrichten noch Kraft zum Mitleid?
Vielleicht berühren wir damit das Problem am ehesten. Können wir einfach nicht mehr? Und: Müssen wir uns entschuldigen, da wir uns – Journalisten nicht ausgeschlossen – ertappen, die gefühlt 37. Reportage aus Saporischja allenfalls noch halbherzig zu registrieren?
Man muss kein Anthropologe sein, um diesen Umgang mit der Katastrophe lesen zu können. Der große Erzähler Robert Louis Stevenson hat es das „Zuchthaus unserer Veranlagung“ genannt. Dazu zählt wohl auch diese Selbstschutzmaßnahme, die uns leben lässt und im Leben hält. Wie aushalten den unentwegt rasenden Nachrichtenticker unserer Sterblichkeit? Gibt es auf die Frage „Kann mir das gleich auch passieren?“ ein Nein, sinkt tragfähiges Mitleid – selbst im Angesicht von Tod und Vernichtung.
News, pausenlos voll von Tod und Gräueln. Warum wir Menschen auf Distanz gehen
Eine Empathie für alle und alles? Sie wäre eine übermenschliche Last. Da rücken wir ausnahmsweise gern von Goethe ab, der – zynisch wie selten in seinem Werk – im „Osterspaziergang“ gar das Wohlgefühl des Kleinbürgers ausmachte, Katastrophe aus der Ferne zu betrachten: „Nichts Bessers weiß ich mir an Sonn- und Feiertagen/Als ein Gespräch von Krieg und Kriegsgeschrei,/Wenn hinten, weit, in der Türkei,/Die Völker aufeinander schlagen./Man steht am Fenster, trinkt sein Gläschen aus/Und sieht den Fluss hinab die bunten Schiffe gleiten;/Dann kehrt man abends froh nach Haus.“
Was in unserer Zeit mehr Beklemmung schafft und deutlich kritikwürdiger ist: Wie wenig wir die Masse an Informationen über das absolut elende Leben anderer Vertreter unsere Spezies sinnstiftend verarbeiten: vor allem nicht als Korrektiv unserer Wohlstandsmentalität. Wir sehen Rohingya, Uiguren oder einen äthiopischen Bauern, dessen Land nun schon drei Jahre keinen Regen sah: Sie alle lösen bei den meisten Zeitgenossen nicht aus, wofür man gar kein Mitleid mobilisieren muss, bloß Einsicht.
Am Sonntag, 19. November 2023 ist Volkstrauertag
Viele haben fast jede Demut verloren. Wir sehen Notoperationen in Gaza, mit einem Handy als einziger Lichtquelle, und jammern in einem der besten Gesundheitssysteme der Welt über volle Praxen. An diesem Wochenende ist Volkstrauertag; mindestens die Dankbarkeit für Frieden in unserem Land könnte ein erster Schritt sein, die schrecklichsten Nachrichten dieser Welt zu verstehen als etwas, das uns beim Maßnehmen hilft.