Oberhausen. Zur deutschsprachigen Erstaufführung im Theater Oberhausen kam auch Autor Igor Memic aus London: Der Kraftakt des Ensembles begeistert.
Das packende Drama beginnt als romantische Komödie zu quietschigen Hits der 1980er und mit staunenden Blicken auf eine (für das Publikum im Großen Haus des Theaters Oberhausen unsichtbare) Touristenattraktion: „Die Brücke von Mostar“ ist im gleichnamigen Debüt von Igor Memic eine heimliche Hauptdarstellerin – neben einem Ensemble, das in diesem physisch und sicher auch emotional kräftezehrenden Spiel alles gibt und dafür großen Applaus erntet.
„Old Bridge“, so der Originaltitel dieser deutschsprachigen Erstaufführung, inszeniert von Anne Bader, überspannt die Jahre von 1988 bis 2004, also auch die frühen 1990er Jahre der Kriege im zerfallenden Jugoslawien. Und die „Titelheldin“, wenn man so will, ist in mehrfacher Hinsicht ein treffendes Symbol – nicht nur wegen der gezielten Zerstörung des 1566 erbauten Wahrzeichens von Mostar, „nur zwei Jahre jünger als Shakespeare“, durch kroatische Truppenund dank des Wiederaufbaus, der elf Jahre später vollendet war. Auch die „Fallhöhe“ der todesmutigen Brückenspringer, die sich mit ausgebreiteten Armen als „Lasta“ („Schwalbe“) in die eiskalte Neretva stürzen, ist eine Metapher für den Mut, den die beiden Heldinnen und die beiden Helden dieses Dramas aufbringen müssen.
Dabei beginnt alles mit einer koketten 19-jährigen im knallbunten „Nena“-Outfit. Als Mina gibt Franziska Roth die vollendete Kleinstadt-Prinzessin: immer um Coolness bemüht, obwohl immer noch ein nervöser Teenager, schlagfertig bis schnippisch – an ihrer Seite Ronja Oppelt als beste Freundin Leila. Die coolste Socke aber darf David Lau als Sasha spielen (in verspätet hippiesker „Wolle“ Petry-Optik), der sich selbst im (noch) multikulturellen Mostar als „halb-katholischer, achtelsdeutscher Roma-Jude mit einem muslimischen Ur-ur-Irgendwas“ beschreibt.
Der Neue aus Dubrovnik wagt den Sprung von der Brücke
Zu diesem verschworenen Trio stößt Philipp Quest als Mili, der Neue aus Dubrovnik, der es wagt, beim Brückenspringen mitzumachen – und die unbeeindruckbare Mina natürlich schwer beeindruckt. Es ist ein trefflich simpler und wirkungsvoller Theater-Coup, das Trio vom Bühnenrand zur imaginären Brücke hochblicken zu lassen. Coole Pointen liefert Igor Memic ihnen wie ein ausgebuffter Boulevard-Schreiber – zu denen die Drei, die auf Springer starren, synchron Bierdosen knacken.
Dass hinter dem sportlichen Idyll weit Schlimmeres dräut, als eine schmerzhaft-unperfekte „Lasta“ aus 19 Metern Höhe – dafür steht die zunächst ruhige, später angsterfüllte oder zornbebende Präsenz von Simin Soraya als Emina: Sie blickt aus der Nachkriegszeit zurück auf ihr jüngeres Ich namens Mina, bündelt als Erzählerin die über Jahre gespannten Ereignisse – und greift gelegentlich tröstend ins Spiel der „Rückblenden“ ein.
Wohnung wird zur Zuflucht – aber auch zum Gefängnis
Mit ihnen wechselt das Geschehen von der Vorderbühne in eine monumentale, immer bedrohlicher erscheinende Kulisse: Bühnenbildnerin Luisa Wandschneider hat „nur“ eine leere Wohnung um 90 Grad „nach oben gekippt“. Doch damit ist alles verkehrt: Für die Clique, die immer fort wollte aus der „langweiligsten Stadt der Welt“, die von Europas Metropolen träumte, wird die Wohnung von Mina und Mili zur Zuflucht – aber auch zum Gefängnis. Denn aus den Bergen ringsum können Scharfschützen die meisten Straßen beschießen.
Sounddesigner Matthias Schubert lässt keine Gewehrsalven knattern: Seine synthetische Klangkulisse lässt das Unheil ahnen, aber sie protzt nicht, sondern dosiert die akustische Wucht. „Der Teufel hat sich deine kleine Stadt ausgeguckt“, sagt Emina, „und es gefiel ihm so gut, dass er sich entschied zu bleiben.“
Jeder Einkauf wird zur lebensgefährlichen Kommandoaktion. Wie die Coolness der Vier bald der nackten Angst weicht, wie sie dennoch mit letztem Trotz und mit Partyhütchen das neue Jahr feiern – das ist von allen Fünf auf der Bühne großartig gespielt. Batterien für den Ghettoblaster sind ihnen mindestens so wichtig wie Brot und Konserven – denn „Girls just Want to Have Fun“. Cyndi Laupers Parole steht hier nicht für Verblendung, sondern für eine Erinnerung, an der sich die Clique immer wieder aufrichtet.
Doch dann hört Leila, dass ihre schon totgeglaubte Mutter in einem großflächig zerschossenen Stadtviertel noch lebt. Sie verlässt die Wohnung – und Sasha bringt sie als Sterbende zurück. Als schließlich Milizen in ihre Wohnung eindringen, müssen auch Mili und Mina – voneinander getrennt – fliehen. Wie die Schwangere auf blutenden Füßen durch von Scherben übersäte Gassen und über die Brücke jagt, das erzählt/spielt nun Simin Soraya, quasi Hand in Hand mit ihrem mädchenhaften jüngeren Ich.
Die Mittel des Theaters für ein „Film-Script“
Nicht nur ihre Flucht über den imaginären Brückengrat ist ein Balanceakt – sondern auch die Inszenierung eines Textes, der in Teilen wie das Drehbuch eines Action-Filmes geschrieben ist. Anne Baders Regie aber setzt in den richtigen Momenten auf Stilisierung, setzt sicher auf jene Effekte, die der Bühne zukommen. Das Spiel des Ensembles ist derart mitreißend und bewegend für die schließlich stehend applaudierenden Zuschauer, dass sich alle bemühten Analogien zum heutigen Kriegsgeschehen, 30 Jahre nach den Kämpfen um die Brücke von Mostar, erübrigen.