Essen. Donnerstagabend wird in Essen der Literaturpreis Ruhr verliehen: die Bücher der vier Kandidaten und Kandidatinnen im Kurz-Check. Und ihre Chancen
Am Donnerstag in der Essener Kreuzeskirche ist es so weit: Nachdem Ralf Rothmann („Die Nacht unterm Schnee“) erklärt hat, den Literaturpreis Ruhr lieber nicht ein zweites Mal bekommen zu wollen, sind es nur noch vier Bücher, zwischen denen für das Jahr 2023 die Entscheidung fallen muss. Und eigentlich können sich nur zwei Kandidatinnen Chancen ausrechnen. Die in Leipzig geborene und im Ruhrgebiet aufgewachsene Lisa Roy (Jg. 1990) ist die jüngste Kandidatin; die Lyrikerin Lina Atfah (Jg. 1989) floh 2014 mit ihrem Mann ins Ruhrgebiet, nachdem sie in Syrien von Assads Geheimdienst stundenlang verhört worden war; Mariusz Hoffmann (Jg. 1986) berichtet von einer weniger angenehmen Ankunft als polnischer Einwanderer in Unna-Massen und Werne; und Martin Simons (Jg. 1973) wuchs am Ostrand des Reviers in Selm auf, vor allem davon erzählt sein Roman.
Mariusz Hoffmann: „Polnischer Abgang“. Roman. Berlin Verlag, 239 S., 22 €.
Hoffmanns Roman ist weitgehend chronologisch und am einfachsten von allen Büchern erzählt. Es geht um ein paar Monate des Jahres 1990, in denen eine polnische Familie aus Unzufriedenheit mit den Verhältnissen im Lande nach Deutschland auswandert, in der vagen Hoffnung, als Aussiedler anerkannt zu werden. Jarek Sobot, der Sohn der Familie, aus dessen Sicht die Geschichte erzählt wird, ist nur noch halb Kind und schon halb Kerl. Er und seine Eltern sind konfrontiert mit den Verfahrens-Zumutungen der Anerkennungsprozedur, aber auch mit der Ablehnung durch Einheimische, die noch wahrhaben wollen, dass sie in einer Einwanderungs-Gesellschaft leben. Und im Hintergrund rumoren die fatalen Folgen eines vermeintlichen Verrats unter dem Jaruzelski-Regime.
Das alles ist mit viel Feinsinn für die Empfindungswelt eines Jugendlichen erzählt, aber literarisch sehr konventionell. Ein Stück Sozialgeschichte, kaum mehr. Kaum Chancen
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Martin Simons: Beifang. Roman. Aufbau Verlag, 234 S., 22 €.
Beifang ist ein Stadtteil von Selm im Nordost-Zipfel des Ruhrgebiets – und Martin Simons erzählt mit spürbar autobiografischer Grundierung von Schicksal einer bitterarmen, kinderreichen Familie seit der Nachkriegszeit. Ein wirklich proletarisches Milieu kommt in schillernden Farben zur Geltung, die ganz im Gegensatz zum durch und durch müden Erzähler wirken, einem Sohn der schrecklich unnetten Familie. Als Erwachsener kehrt er nach Beifang zurück, die Eltern räumen ihr Haus aus, um sich kleiner zu setzen. um Frank, um die dreißig, ist ein durch die Gegenwart stolpernder, etwas willensschwacher Drehbuch- und Show-Script-Schreiber – als Figur eher uninteressant, aber als Medium für manch unerzählte Seite des Ruhrgebiets ideal. Die Sprünge im Erzählfluss zwischen Gegenwart und Vergangenheit sind durchweg schlüssig und drängen auf Vergleiche zwischen emotionswarme Armut und lauwarmem Wohlstand. Wenig Chancen
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Lina Atfah: Grabtuch aus Schmetterlingen. Gedichte. Mit einem Vorwort von Jan Wagner. Pendragon, 166 S., 22 €.
Lina Atfah ist in der arabischen Literatur und ihrer Geschichte, die sie in Damaskus studiert hat, genauso zu Hause wie in der westlichen Lyrik. „Ein Grabtuch aus Schmetterlingen“ ist ihr zweiter in Deutschland erschienener Gedichtband, ist getränkt von Kriegsleid und Liebessehnsucht zugleich, von Verzweiflung an der Welt und Jubeln über ihre schönen Seiten, von glühender Hoffnung auf Momente des Glücks in den tiefen Tälern der Verzweiflung. Lauwarm ist das Letzte, was diese Dichterin kann. Aber leise: „So sacht bebt die Luft / im Käfig meiner Finger.“ Das kleine Karo aber überlässt sie anderen. Dass ihre Verse bei aller Bildmacht auch noch realistisch bleiben, auf dem Boden der Wirklichkeit und in poetischen Höhen zugleich, das ist echte Kunst. Dass Lyrik es gegen Romane immer ein bisschen schwer hat, ist wahr – könnte aber auch für einen Versuch ausgleichender Gerechtigkeit taugen. Gute Chancen
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Lisa Roy: Keine gute Geschichte. Roman. Rowohlt, 239 S., 22 €.
Der Titel dieses Romans trügt nicht: „Keine gute Geschichte“ von Lisa Roy ist alles andere als aufmunternd: Eine junge Frau, die nach steilem Aufstieg im Düsseldorfer 2.0-Werbemilieu Depressionen in der Klinik bekämpfen musste, soll ihrer gestürzten Großmutter durch den Alltag helfen und kehrt an den Ort ihrer Kindheit zurück. Und die zieht nun, unterbrochen von Szenen der Gegenwart, in schonungslosem Realismus vor dem inneren Auge vorbei. Den genauen, intelligenten, ja durchdringenden Blick wird sich die in den 90ern aufgewachsene Arielle das ganze Buch hindurch bewahren, genauso wie die Versuche, gegen die eigene Verletzlichkeit eine Mauer aus Zynismus zu errichten. Manchmal ein bisschen überdreht – aber das ist der Preis, den diese Figur für gnadenlosen Durchblick bezahlt. Ein furioses Debüt. Beste Chancen
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