Herne. Lina Atfah ist im Rennen um den Literaturpreis Ruhr – mit ihrem starken Gedichtband „Grabtuch aus Schmetterlingen“ hat sie die Jury überzeugt.

„Romantisch hässlich“, so hat die Dichterin Lina Atfah ihre syrische Heimatstadt Salamiyya in Erinnerung. Und Wanne, die Hälfte des Herner Stadtteils Wanne-Eickel, ist für sie auch so. Hier lebt die Lyrikerin, die in diesem Jahr Kandidatin für den Literaturpreis Ruhr ist, seit 2014.

Schon ihr Großvater war aus politischen Gründen zwölf Jahre in den Verliesen des Assad-Regimes eingekerkert – und nach einem sechsstündigen Verhör durch den syrischen Geheimdienst wusste Lina Atfah, dass es Zeit ist zu fliehen. Ihr Mann wollte in Bochum Physik studieren, eine bezahlbare Wohnung fanden sie in Wanne.

Lina Atfah verwebt Kriegsleid und Liebessehnsucht

Auch Lina Atfahs Gedichte, die ungemein gefühls- und bilderstark daherkommen, haben romantische Züge, ohne die Hässlichkeiten der Welt auszusparen. „Ein Grabtuch aus Schmetterlingen“, ihr jüngster Band, ist getränkt von Kriegsleid und Liebessehnsucht zugleich, von Verzweiflung an der Welt und Jubeln über ihre schönen Seiten, von glühender Hoffnung auf Momente des Glücks. Lauwarm ist das Letzte, was diese Dichterin kann. Aber leise: „So sacht bebt die Luft / im Käfig meiner Finger.“ Und das kleine Karo überlässt sie anderen. Dass ihre Verse bei aller Bildmacht auch noch realistisch bleiben, auf dem Boden der Wirklichkeit und in poetischen Höhen zugleich, das ist echte Kunst. „Der Welt aus der Hand zu lesen“ etwa, wo es am Schluss heißt:

„Krank werden wir und sterben
nach einem kurzen oder langen Leben:
am Ende werden wir krank und sterben.
Keine Zeit, einem strömenden Fluss nachzusinnen
oder die Zehen eines Babys zu bestaunen.
Keine Zeit, eine Handvoll Erde aufzunehmen
und die Bäume um Verzeihung zu bitten.
Keine Zeit, irgendwen zu retten.
Du bist schnell, liebe Welt!
Eine Gazelle, die um ihr Leben rennt.
So schnell, liebe Welt!
Herzchenregen auf dem Handy.“

Lina Atfah im Strom einer großen Tradition

In diese Kunst mündet der Strom einer großen Tradition. Lina Atfah hat in Damaskus Arabische Literatur studiert, bevor sie für Zeitungen schrieb und ihren ersten Gedichtband „Am Rande der Rettung“ in Syrien veröffentlichte. Sie zitiert aber auch Kafkas „Verwandlung“ herbei und das Kinderspiel „Schnick, Schnack, Schnuck“. Arztwartezimmer und alte Legenden, Alexander von Humboldt und die überschminkten blauen Flecken einer Frau – Lina Atfah verwebt Kulturen und Epochen mit der Gegenwart und umkreist die Menschen darin. Auch die Corona-Zeit ist ihr zu einem Gedicht geronnen, das überaus authentisch wirkt, weil es im Kunstgriff der Wiederholungen die seltsame Disziplin wieder spürbar macht:

„Ich wusch mir die Hände.
Ich wusch mir die Hände.
Ich wusch mir die Hände.
bis zum Ende vom Lied.

(...)

Als wäre die ganze Welt
ein langer Korridor im Krankenhaus.
So eine lange Zeit.
So lang und länger.
So fern und ferner.“

Und im „Letzten Lied des Kanarienvogels“ schreibt sie sogar über Risiken und Nebenwirkungen des Bergbaus in ihrer neuen Heimat:

„Heute entschuldigen wir uns
für die auf Raubbau gegründeten Städte.
Erzählen davon im Zechenmuseum,
als wäre alles längst überstanden.“

Nach wie vor schreibt Lina Atfah auf Arabisch, und der Bielefelder Pendragon Verlag ist nicht hoch genug zu loben dafür, dass er auch diesen Band (wie den Vorgänger „Das Buch von der fehlenden Ankunft“) zweisprachig gedruckt hat (und sogar zwei Lesebändchen hat einfügen lassen). Allein das Schriftbild lässt erahnen, welche sprachliche Herkulesarbeit der Übersetzer Osman Yousufi und die Kölner Lyrikerin Brigitte Oleschinski beim Nachdichten der Originale vollbracht haben.