Berlin. Ob Stress die Haare grau werden lässt, war der Wissenschaft lange ein Rätsel. Eine aktuelle Studie bringt nun neue Erkenntnisse.
„Lass dir darüber keine grauen Haare wachsen“ ist ein Rat, den besorgte Menschen oft hören. Tatsächlich ist bekannt, dass Stress Alterungsprozesse im Körper beschleunigt. Ob er aber auch das Ergrauen der Haare fördert, konnte die Forschung bisher nicht vollständig klären. Wissenschaftliche Studien an Mäusen deuten auf einen Zusammenhang hin, der Nachweis beim Menschen stand jedoch bis vor Kurzem noch aus.
Stressforschung bisher nur an Mäusen
Die Harvard University hat bereits 2020 eine Studie durchgeführt, um der Frage nach dem Zusammenhang zwischen Stress und dem Ergrauen der Haare nachzugehen. Unter der Leitung von Professorin Ya-Chieh Hsu wurde eine Gruppe von Mäusen verschiedenen Stressfaktoren ausgesetzt, zum Beispiel plötzlichen Bewegungen im Käfig, dem An- und Ausschalten von Licht oder der Injektion einer schmerzauslösenden Substanz.
Dabei stellten die Forscher fest, dass bei den sichtlich gestressten Mäusen Stresshormone wie Adrenalin und Noradrenalin ausgeschüttet wurden. Diese Hormone sind entscheidend für die sogenannte Fight-or-Flight-Reaktion, die es Lebewesen ermöglicht, in Gefahrensituationen zu kämpfen oder zu fliehen.
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Stresshormone können Haare grau werden lassen
Das Stresshormon Noradrenalin hat offenbar nicht nur leistungssteigernde, sondern auch eine weniger willkommene Wirkung: Es kann Haare grau werden lassen. Wie die Forscher im Fachmagazin „Nature“ berichten, dringt Noradrenalin über Nervenbahnen auch zu den Haarfollikeln vor, den winzigen Organen an der Basis jedes Haares.
Dort beeinflusst Noradrenalin die Stammzellen der Melanozyten, die für die Produktion des Farbpigments Melanin verantwortlich sind. Unter Stress wird so viel Melanin produziert, dass schließlich keine Stammzellen mehr übrig bleiben, um weiteres Melanin zu bilden. Die Folge: Die nachwachsenden Haare sind pigmentlos und erscheinen grau. Dies bestätigte sich auch im Experiment, als die Mäuse nach der Stressbelastung ein graues Fell entwickelten.
Erster Stresstest am Menschen
Eine kleine, aber wichtige Studie aus dem Jahr 2021 hat die Stressforschung einen entscheidenden Schritt vorangebracht. Forscher der Columbia University untersuchten Haarsträhnen von 14 Freiwilligen im Alter von 9 bis 65 Jahren, die bereits erste Anzeichen von grauem oder weißem Haar aufwiesen. Die Wissenschaftler erstellten hochauflösende digitale Bilder der Haare, um den Pigmentverlust – das Ergrauen – in jedem winzigen Haarabschnitt genau zu messen.
Wie Ayelet Rosenberg, Erstautorin der Studie und Studentin im Labor von Martin Picard, in der Fachzeitschrift „eLife“ erläutert, ermöglicht diese Methode eine genaue Analyse des Ergrauens in winzigen Haarabschnitten. Jedes analysierte Haarsegment, das etwa einen Zwanzigstelmillimeter breit ist, entspricht einer Stunde Haarwachstum. So konnte das Forschungsteam abschätzen, wie schnell das Haar wächst, und genau bestimmen, wann jede einzelne Strähne ergraut.
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Können sich graue Haare wieder zurückbilden?
Die Ergebnisse der Haaranalysen wurden im nächsten Schritt mit den Stresstagebüchern der Teilnehmer verglichen, in die sie wöchentlich ihre persönliche Stressbelastung eingetragen hatten. Dabei entdeckten die Forscher auffällige Parallelen zwischen Stressphasen und dem Ergrauen der Haare.
Besonders überraschend war, dass sich bei einigen Probanden das Ergrauen der Haare teilweise umkehrte, sobald ihr Stresslevel sank. „Eine Person war während der Studie im Urlaub, und in dieser Zeit wurden fünf ihrer grauen Haare wieder dunkler“, berichtet Martin Picard, Studienleiter und außerordentlicher Professor für Verhaltensmedizin in Psychiatrie und Neurologie an der Columbia University. Nach Ansicht der Forscher zeigt diese Beobachtung, dass das Ergrauen der Haare nicht immer ein endgültiger Prozess ist, sondern unter bestimmten Bedingungen reversibel sein kann.
Mitochondrien könnten eine Schlüsselrolle beim Ergrauen der Haare spielen
Um besser zu verstehen, wie Stress graue Haare verursacht, analysierte das Forschungsteam auch den Proteingehalt in Tausenden von Haarproben der Teilnehmer und untersuchte, wie sich dieser mit der Haarlänge verändert. Die Wissenschaftler stellten fest, dass die Veränderung der Haarfarbe mit einer Veränderung von etwa 300 Proteinen einhergeht.
Aus diesen Erkenntnissen entwickelten die Forscher ein mathematisches Modell, das darauf hindeutet, dass stressbedingte Veränderungen in den Mitochondrien – den Energiezentren der Zellen – das Ergrauen der Haare erklären könnten. Dieses Modell steht allerdings im Widerspruch zu den Ergebnissen der früheren Studie an Mäusen, die das stressbedingte Ergrauen mit einem irreversiblen Verlust von Stammzellen in den Haarfollikeln erklärten. Die Forscher vermuten jedoch, dass Unterschiede in der Biologie der Haarfollikel von Mäusen und Menschen diesen Widerspruch erklären könnten.
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Graue Haare: Weitere Ursachen möglich
Wie die geringe Stichprobengröße zeigt, sind die Forschungsergebnisse nicht auf alle Menschen übertragbar. Die Forscher vermuten, dass es eine biologische Altersgrenze gibt, ab der die Haare grau werden. „Wir glauben nicht, dass eine Stressreduktion bei einem 70-Jährigen, der seit Jahren graue Haare hat, diese wieder dunkler werden lässt. Genauso wenig dürfte eine Zunahme von Stress bei einem Zehnjährigen ausreichen, um seine Haare grau werden zu lassen“, erklärt Studienleiter Martin Picard.
Zudem betonen die Forscher, dass auch andere biologische Faktoren das vorzeitige Ergrauen der Haare beeinflussen können. So ist der Melaninmangel, der in der aktuellen Studie durch Stress ausgelöst wurde, auch genetisch bedingt. Kinder von Eltern, die früh ergrauen, haben eine höhere Wahrscheinlichkeit, ebenfalls früh graue Haare zu bekommen. Das für das Ergrauen verantwortliche Gen heißt „IRF4“ und wurde in früheren Studien vor allem bei Europäern identifiziert. Demnach zeigen sich die ersten grauen Haare beim kaukasischen Typ durchschnittlich mit 35 Jahren, beim asiatischen Typ etwa fünf Jahre später, und beim afrikanischen Typ beginnt das Ergrauen durchschnittlich zehn Jahre später.
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Trotz der vielversprechenden Forschungsergebnisse sind noch viele Fragen offen. Das Team um Martin Picard plant, in einer nächsten Studie die Veränderungen der Haarfarbe und des Stresslevels prospektiv zu untersuchen. Das bedeutet, dass die Teilnehmenden über einen bestimmten Zeitraum aktiv beobachtet und analysiert werden, anstatt sich auf ihre Erinnerungen an vergangene Stressphasen zu verlassen.
Die bisherigen Ergebnisse der Studie wurden in der Fachzeitschrift „eLife“ veröffentlicht.
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