Xanten. Der Kunsthistoriker Thomas Hensolt betreut im Stiftsmuseum Xanten Jahrhunderte alte Bücher und Kunstwerke.
Klein, aber fein ist das Stifts-Museum in unmittelbarer Nähe zum Xantener Dom. Die hier versammelten Kirchenschätze sind teils 1000 bis 1500 Jahre alt, der moderne Museumsbau hingegen ist knapp 20 Jahre jung. Die Bestände umfassen kostbare Reliquiengefäße, Altargeräte, Skulpturen und Gemälde, mehr als 450 kunstvolle Textilien und eine grafische Sammlung. Etwas ganz Besonderes ist die historische Stifts-Bibliothek. Noch bis zum 30. März ist dort die Sonderausstellung „Medizinische Autoritäten im Buchdruck“ zu bestaunen. Wie sich Gelehrte vor Jahrhunderten die Anatomie des Menschen vorstellten, lässt sich hier bis ins Detail verfolgen.
Einige Xantener Stiftsherren praktizierten als Ärzte und vertieften sich in diese kostbaren alten Bücher, wie etwa im 16. Jahrhundert Cornelius Zyfridus Sluis: Der Gelehrte vom Niederrhein machte sogar Karriere am englischen Königshof, als Leibarzt der dort lebenden Anna von Kleve. Alle seine privaten Medizinbücher sind nun Teil der Bibliothek im Stifts-Museum. Thomas Hensolt, Kunsthistoriker und Ausstellungskurator im Stiftsmuseum Xanten betreut mit seinem Team die Sammlung.
Herr Hensolt, wie pflegt man diese Fülle an uralten Büchern?
Thomas Hensolt: Die Bücher wurden von ihren einstigen Besitzern immer gut gepflegt, da Bücher vor allem im Mittelalter und der frühen Neuzeit sehr teuer und Luxusgut waren. Die häufigen Eintragungen in den Büchern sind keine Kritzeleien, sondern zeigen, dass mit den Büchern tatsächlich gearbeitet wurde. Es handelt sich meist um Kommentare zum Text, Ergänzungen oder auch Widersprüche. Wenn ein Buch gut behandelt wird, kann es noch Hunderte Jahre alt werden. Das gilt nicht nur für Handschriften auf Pergament, sondern auch für die frühen Drucke, Inkunabeln genannt, deren Buchseiten nicht wie heute aus modernen Holzfasern, sondern aus zerstoßenen oder gemahlenen Lumpen bestehen. Dieses Papier ist wesentlich robuster. Nur die Lagerbedingungen müssen stimmen. Feuchtigkeit, Insekten und Nagetiere sind für Bücher „lebensgefährlich“. Wir haben das Glück, am Haus über eine eigene, professionelle Werkstatt mit einer Restauratorin für Schriftgut zu verfügen. Sie kümmert sich um unsere Bücher, die in den vergangenen Jahrhunderten gelitten haben. Dazu zählen vor allem jene Schäden, die die Bücher während des 2. Weltkriegs erlitten haben.
Falls Sie das verraten können: Welche Werte sind in der Bibliothek und in der Ausstellung des Stiftsmuseums versammelt?
Unsere Bibliothek umfasst etwa 15.000 Bücher. Da lässt sich ein Gesamtwert nicht berechnen. Für manche Bücher gibt es auch keinen Vergleichswert, wenn sie sich nur in bestimmten Bibliotheken befinden und nur äußerst selten oder nie gehandelt werden. Für uns als Museum steht der monetäre Wert allerdings auch nicht im Vordergrund. Es geht vielmehr um den historischen oder kunsthistorischen Wert der Stücke und welche Geschichte sie erzählen. Das gilt nicht nur für unsere Bücher, sondern für alle Objekte. Aber ein Beispiel kann ich nennen: Die sogenannte Schedelsche Weltchronik, 1493 erstmals in Nürnberg gedruckt, gilt mit mehr als 1800 Holzschnitten als das Bilderbuch des Mittelalters. Auf Auktionen werden diese Ausgaben, sofern sie auch noch koloriert sind, für sechsstellige Beträge verkauft. Auch in der Stiftsbibliothek befindet sich eine Ausgabe der Weltchronik. Allerdings ist unser Exemplar unkoloriert.
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Haben ausschließlich Mönche diese uralten Schriften verfasst?
Wenn wir über Handschriften reden, dann stammen diese in der Regel aus dem monastischen Umfeld, wie etwa Mönchs- oder Nonnenklöstern. Hier gab es Skriptorien (Schreibstuben), in denen Bücher kopiert und bisweilen aufwendig verziert wurden. In Xanten selbst gab es kein Skriptorium, daher mussten die Stiftsherren ihre Bücher für den Gottesdienst zukaufen. Da sie scheinbar viel Wert auf hohe Qualität legten – nicht zuletzt was die Verzierungen der Buchseiten mit Initialen und Schmuckleisten angeht – orderten sie etwa bei den Kölner Klarissinnen, die im 14. Jahrhundert ein herausragendes Skriptorium betrieben. Aber auch bei den Fraterherren in Emmerich und Doesburg wurde regelmäßig bestellt.
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Entstanden die Bücher in Einzel- oder Gruppenarbeit, und wie lange dauerte so etwas bis zur Vollendung?
Ein Buch, ganz gleich ob gedruckt oder von Hand geschrieben, war meist eine Gemeinschaftsarbeit. So gab es Personen, die die Pergamentseiten vorbereiteten, die Linien zogen, Platz für Initialen oder Bilder einplanten und anderes. Es gab Schreiber:innen, die Texte kopierten. Rubrikatoren hoben in roter Tinte wichtige Satzteile hervor. Hinzu kamen Vorzeichner, Buchmaler und Illuminatoren, welche die Bilder in leuchtenden Farben erstrahlen ließen oder mit Gold verzierten. Dann gab es Buchbinder und Feinschmiede für die Buckel und Schließen der Bucheinbände. Manchmal kamen noch Elfenbeinschnitzer oder Goldschmiede hinzu, je nach Aufwand der Buchdeckel. Es lässt sich nicht genau sagen, wie lange man für die Produktion eines Buches brauchte. Es hängt von zu vielen Faktoren ab: Bekanntheit des Textes – je bekannter, umso schneller ließ er sich kopieren –, Länge, Buchformat, Ausstattung mit Malereien und so weiter.
Welche Bücher und Exponate faszinieren die Besucher am meisten?
Besonders faszinierend sind naturheilkundliche Bücher, wie etwa die Schriften von Hildegard von Bingen oder auch der sogenannte Hortus sanitatis, der „Garten der Gesundheit“. Hier treffen antikes und mittelalterliches Wissen auf abergläubische Vorstellungen, wenn etwa bestimmte Pflanzen nur an bestimmten Tagen oder bei Vollmond geerntet werden dürfen. Zudem gibt es im „Hortus“ viele Holzschnitte, die die Pflanzen, wenn auch stilisiert, anschaulich illustrieren. Auch die historischen Medizinbücher sind sehr beliebt. So gruseln sich die Besucher und Besucherinnen gerne, wenn sie in die Werke des 16. Jahrhunderts blicken und sehen, welche Gerätschaften dort bisweilen bei chirurgischen Eingriffen zum Einsatz kamen. Zugleich amüsieren sie sich über die fehlerhaften anatomischen Darstellungen. Aber auch unsere Ausgabe des Till Eulenspiegel oder der Hexenhammer – letzterer ebenfalls wegen des Gruselfaktors – erfreuen die Besucher sehr.
Und welche Druckwerke liegen Ihnen selbst besonders am Herzen?
Mein Herz schlägt vor allem für die Handschriften und ihre fantastischen Malereien. Besonders angetan hat es mir ein kleines Stundenbuch aus dem 15. Jahrhundert. Es versammelt die Gebete, die täglich bei der privaten Andacht im Laufe des Jahres gesprochen werden mussten. Es wurde in einem niederländischen Kloster der Birgitten geschrieben. Von dort kam es über das Birgittenkloster Marienbaum in die Xantener Stifts-Bibliothek. In dem Buch gibt es eine Seite, die Maria mit einer Schüssel voll Brei auf dem Schoß zeigt. Davor ist das unbekleidete Jesuskind zu sehen, das leicht amüsiert auf die Mutter schaut und mit einem Roller davonfährt – frei nach dem Motto: Kein Hunger, will spielen! Gerade diese Normalität, die hier zwischen Christus und Maria gezeigt wird und die jede Familie mit Kleinkindern kennt, finde ich großartig.
Wie kam es zu Ihrer Arbeit im Xantener Stiftsmuseum?
Ich habe in Düsseldorf und Prag Kunstgeschichte studiert. Schon während des Studiums lag einer meiner Schwerpunkte auf der mittelalterlichen Kunst, insbesondere der Buchmalerei. Als sich vor fast zwei Jahren die Gelegenheit ergab, hier im Stifts-Museum Xanten anzufangen, habe ich nicht lange gezögert. Ein solche Sammlung betreuen zu dürfen, deren Schätze vom 5. bis zum 19. Jahrhundert reichen, ist nicht nur spannend, sondern auch eine Ehre. Die Objekte zu erforschen, sie zum Erzählen zu bringen, damit auch andere sie verstehen und sich dafür begeistern können – das ist eine faszinierende Aufgabe.
Können Sie Sonderausstellungen für 2025 ankündigen?
Wir werden 2025 das Konzept unserer Sammlungspräsentation verändern, um die Objekte noch erfahrbarer zu machen. Dazu stellen wir uns unter anderem verschiedene Taststationen vor. Denn wer weiß schon, wie sich Pergament, byzantinische Seide oder ein mittelalterlicher Brokatstoff anfühlen? Zudem sollen die Stiftsherren, die einst hier lebten, stärker in den Blick genommen werden. Natürlich werden wir auch wieder besondere Schätze aus unserer Bibliothek im Rahmen von „neu aufgeschlagen“ genauer vorstellen.
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Was ist das Besondere am Stiftsmuseum?
Das Stifts-Museum Xanten ist einzigartig in NRW, schon wegen seiner Lage: Das Museum befindet sich inmitten der ehemaligen Stiftsimmunität; also dem Bereich, in dem seit der Gründung des Xantener Chorherrenstifts die geistliche Gesetzgebung galt. Dieser Bereich wuchs im Laufe der Jahrhunderte immer weiter an und bildet bis heute eine Art Stadt innerhalb der Stadt, in dessen Mittelpunkt sich der Xantener Dom befindet. Genau genommen ist es wie in einem Freilichtmuseum, wenn man vom Markt kommend durch das Michaelstor tritt und zwischen Dom und den ehemaligen Wohnhäusern der Stiftsherren spaziert. Auch das Museum weist einige Besonderheiten auf. Mehrere Räume bestehen schon seit Jahrhunderten: Wo früher Wein und Korn gelagert wurden, sind heute Schätze der Goldschmiedekunst zu sehen. Wo zu Beginn des Stifts noch der gemeinschaftliche Schlafsaal war, werden nun kostbare Messgewänder gezeigt. Es sind also nicht nur die Objekte, sondern auch die Räume, die Geschichte atmen.
Stifts-Museum Xanten, Kapitel 21, 46509 Xanten. Geöffnet: die.-sa. 10-17 Uhr, so./ feiertags 11-18 Uhr. Geschlossen: 23.12.24 bis 1.1.25 und Karfreitag. Info: www.stiftsmuseum-xanten.de
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