Essen. Die Babyboomer fluten das Rentensystem und leeren die Kasse. Bezahlen sollen das ihre Kinder. Warum die Politik die Jüngeren links liegen lässt.

Bei wenigen Vorhaben schien die Ampel-Koalition so entspannt und einig, wie bei ihrer geplanten Rentenreform. Nun steht auch die wieder infrage, einmal mehr nach einem Veto der FDP. Ob sie noch kommt, ist ungewiss. Klar ist aber: Ohne grundlegende Änderungen wird unser Rentensystem unbezahlbar. Und jeder Eingriff wird richtig wehtun, die Frage ist nur, wem. Im Angebot sind immer die gleichen Nettigkeiten: Länger arbeiten, Beiträge erhöhen oder das Rentenniveau senken. Viel mehr als diese drei Stellschrauben hat unser Umlagesystem, in dem die Jungen den Ruhestand der Alten finanzieren, nicht. Deswegen kochen die Emotionen schnell hoch, wenn über die Rente diskutiert wird – für Politiker ein geborenes Verliererthema.

Aber was läuft eigentlich schief in der deutschen Rentenpolitik? Ist unser System wirklich so schlecht, wie alle sagen? Welche Alternativen gibt es, warum machen wir es nicht wie Österreich oder die Schweiz, wo die Menschen im Ruhestand kaum Abstriche machen müssen?

Über-50-Jährige stellen bei der Bundestagswahl 60 Prozent der Wähler

An Rentenreformen haben die jüngsten Bundesregierungen nicht gespart. Sowohl die vorerst letzte Große Koalition unter Merkel als auch die Ampel haben populäre Pakete geschnürt: Mal für Menschen, die sehr früh angefangen haben zu arbeiten und nun ohne Abzüge mit 63 in Rente gehen dürfen, mal für Mütter und zuletzt für Erwerbsminderungsrentner (Rentenpaket I der Ampel). Das Rentenpaket II der Ampel ist für alle Rentner und Neurentner der kommenden 15 Jahre gedacht: Das Rentenniveau soll demnach bis 2039 nicht unter 48 Prozent sinken.

Norbert Blüm startet Info-Aktion zum Thema Rente
Legendär: Norbert Blüms (CDU) Versprechen von 1986, die Rente sei sicher. Das ist sie nach wie vor auch, allerdings nur, weil das Rentenniveau bereits kräftig abgesenkt wurde. © picture alliance / Peter Popp | Peter Popp

Das alles brachte und bringt Verbesserungen für Menschen, die bereits im Ruhestand sind oder in den kommenden 15 Jahren gehen werden, kurzum: für Menschen über 50. Sie stellen bei der nächsten Bundestagswahl rund 60 Prozent aller Wahlberechtigten in Deutschland. Kein Wunder also, dass sich Bundesregierungen jeder Farbkonstellation gut mit ihnen stellen möchten.

Die gern verschwiegene Kehrseite aller Rentenpakete, die nach der 2009 eingeführten und höchst unpopulären Rente mit 67 geschnürt wurden: Sie gehen sämtlich zu Lasten der jüngeren Generationen. Sie müssen erstens die stabilisierten aktuellen Renten mit ihren Beiträgen bezahlen.

Ampel-Reform wäre das endgültige Ende der Generationengerechtigkeit

Und zweitens warten auf sie niedrigere Renten, als sie die aktuelle Generation der Ruheständler erhält. Denn die Garantie, 48 Prozent des Bruttoeinkommens auszuzahlen, gilt für alle, die ab dem Jahr 2040 in Rente gehen, nicht mehr. Die wenigen Kinder der Babyboomer wären also doppelt gekniffen. Das Rentensystem würde sich damit endgültig von der so gern proklamierten Generationengerechtigkeit verabschieden.

Dass es so kommen würde, war mit dem entscheidenden Geburtsfehler unseres Rentensystems bereits 1957 eigentlich klar. Die Väter der dynamischen, an die Löhne gekoppelten Rente um Wilfried Schreiber wiesen darauf hin, dass es Probleme geben würde, wenn weniger Beitragszahler mehr Rentner finanzieren müssten. Kanzler Konrad Adenauer wischte diese mathematische Binse mit seinem berühmten Satz „Kinder kriegen die Leute immer“ weg. Mitten in den Babyboomer-Jahren der 50er ließ sich das gut sagen, mit dem Pillenknick kam dann aber ab 1970 alles ganz anders.

Adenauer hat sich geirrt: Von wegen „Kinder kriegen die Leute immer“

Schreiber wollte von Beginn an das Verhältnis zwischen Beitragszahlern und Rentnern in der Rentenformel berücksichtigen. Sollte es sich zu Lasten der Beschäftigten entwickeln, sollten die Renten weniger steigen als die Löhne. Ein halbes Jahrhundert später wurde seine Idee doch noch Wirklichkeit, mit dem „Nachhaltigkeitsfaktor“ der rot-grünen Regierung Schröder. Zu spät, um die jahrzehntelange Fehlentwicklung bei den Renten aufzufangen. Aber schon zu viel für die sozialdemokratische Seele. Nach dem Liebesentzug der Parteibasis machte sich die SPD bei ihren letzten Regierungsbeteiligungen daran, die von ihr selbst geschaffenen Härten wieder aufzuweichen.

Wer die jüngsten Verbesserungen für Rentner kritisiert und die Gewissheit verbreitet, dass es den heutigen Ruheständlern besser geht als es den künftigen gehen wird, muss auf empörten Widerspruch nicht lange warten. Wer fast sein ganzes Leben lang gearbeitet hat und eine mittelmäßige bis ordentliche Rente erhält, hat diese ganz sicher verdient und zu Recht keine Lust, sich das madig machen zu lassen. Richtig ist auch, dass schon heute viele Ruheständler an der Armutsgrenze leben und ihre Zahl von Jahr zu Jahr steigt.

Künftig werden deutlich mehr Menschen in die Grundsicherung abrutschen

Die klare Tendenz ist aber diese: Von den heute Beschäftigten werden deutlich mehr Menschen in die Grundsicherung abrutschen, als dies heute der Fall ist. Genau sie werden zugleich durch die Rentenpakete ganz besonders belastet, weil sie zwar wenig bis keine Steuern, aber die vollen Rentenbeiträge zahlen müssen. Wer heute unterdurchschnittlich verdient, wird im Alter nicht über die Mindestrente kommen, die nur knapp über dem Existenzminimum liegt.

Trotzdem bewegt die Rentendebatte in Deutschland seit jeher vor allem jene, die bereits im Ruhestand sind oder kurz davor stehen. Naheliegenderweise, denn sie beschäftigen sich zwangsläufig damit, wie viel Geld sie im Ruhestand zur Verfügung haben oder wie viel sie bald erwarten dürfen. Wer gerade seine Ausbildung oder sein Studium abgeschlossen hat, denkt zunächst daran, wie er oder sie beruflich Fuß fassen kann. Die Rente ist, zum Glück, noch weit weg.

Viele beschäftigen sich mit der Rente erst, wenn es zu spät ist

Mit der Gefahr, im Alter arm zu werden, beschäftigen sich junge Menschen in etwa so gern wie Raucher mit dem Risiko, Lungenkrebs zu kriegen. Das ist nur menschlich: Risikovorsorge wird immer dann ein Thema, wenn die Gefahr, ob vor Armut oder Krankheit, näher kommt und langsam real wird. Doch dann ist es etwa für den Aufbau einer privaten Altersvorsorge längst zu spät. Privatrenten sind am ehesten bezahlbar, je früher sie abgeschlossen werden.

Der Druck auf die Politik, dieses unangenehme Thema ernsthaft anzupacken, steigt mit den Babyboomern, von denen die ersten jetzt in Rente gehen. Der letzte geburtenstarke Jahrgang 1968 wird spätestens 2035 das System fluten. Die dann nicht mehr so vielen Berufstätigen der jüngeren Jahrgänge und ihre Arbeitgeber werden daher immer höhere Beiträge zahlen müssen.

Ampel plant Beitragserhöhungen von bis zu 280 Euro im Monat

Die von der Bundesregierung einkalkulierte Erhöhung um 3,7 Prozentpunkte würde das heutige Durchschnittsbruttoeinkommen von zuletzt 4450 Euro mit zusätzlich 164 Euro im Monat belasten, bei der Beitragsbemessungsgrenze von aktuell 7550 Euro mit 280 Euro, je zur Hälfte zu zahlen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern.

Lindner und Heil
Waren sich längst einig: Sozialminister Hubertus Heil (SPD) und Christian Lindner hatten sich auf ihr Rentenpaket II geeinigt. FDP-Abgeordnete stoppten die Reform aber in letzter Minute. © DPA Images | Michael Kappeler

Zusätzlich soll eine Aktienrente mit Erträgen aus den Finanzmärkten das System stabilisieren. Diesen Wunsch von FDP-Chef Christian Lindner erfüllten SPD und Grüne, um ihr Mindestrentenniveau in der Ampel durchsetzen zu können. Kurz vor der geplanten Verabschiedung erkannten nun Liberale wie der Parteivize Johannes Vogel offenkundig, dass sie mit ihrer Aktienrente weniger gewännen als sie an Glaubwürdigkeit verlieren würden mit einer Reform, die im Kern aus heftigen Beitragserhöhungen bestünde. Die von der Wirtschaft natürlich strikt abgelehnt werden.

Lindners Aktienrente bringt nur geringe Entlastung für Jüngere

Die Aktienrente heißt im Gesetzentwurf „Generationenkapital“, was signalisieren soll, dass zumindest von diesem Punkt die Jüngeren profitieren sollen. Richtig ist, dass die zu erwartenden Einnahmen mit den Jahren steigen müssten. Denn der Bund nimmt dafür schrittweise Kredite auf und legt das Geld in Aktien an. Die Ausschüttungen fließen in die Rentenkasse. Bis Mitte der 30er-Jahre sollen mindestens 200 Milliarden Euro angelegt werden. Das klingt sehr viel, ist es aber nicht. Am Ende soll das pro Jahr zehn Milliarden Euro bringen – bei Ausgaben der Rentenversicherung von zuletzt 430 Milliarden Euro. In Beitragspunkten könnte das die Beiträge um 0,4 bis 0,6 Prozentpunkte entlasten – bei der geplanten Erhöhung um 3,7 Punkten kaum spürbar.

Unangetastet bleiben einmal mehr die beiden unpopulärsten Stellschrauben der Rentenversicherung: Eine Erhöhung des Rentenalters und Rentenkürzungen. Deshalb besorgen die Bundesregierungen immer wieder Geld von außerhalb, bevorzugt aus dem Bundeshaushalt. Indirekt geschieht das auch bei der Aktienrente, weil die Kredite dafür an anderer Stelle eingespart werden müssten, um die Schuldenbremse einzuhalten.

Schon heute funktioniert das Rentensystem nur mit immensen Steuerzuschüssen

Mehr als ein Viertel der Rentenauszahlungen im vergangenen Jahr wurden aus Steuermitteln finanziert, der größte Teil davon für versicherungsfremde Leistungen wie Frührenten und Mütterrenten. Das kaschiert einen Teil der Generationenungerechtigkeit, weil es die Rentenbeiträge entlastet. Die meisten Steuern zahlen aber ebenfalls die Berufstätigen, auch wenn immer mehr Rentner inzwischen ebenfalls Steuern zahlen müssen.

Was könnte man tun, um auch den Jüngeren auskömmliche Renten zu ermöglichen? Zum Beispiel die beiden anderen Säulen stärken: Privatrenten und Betriebsrenten. Das tut der Staat etwa bei Riester-Renten, und auch das Rentenpaket der Ampel will es mittelständischen Betrieben erneut erleichtern, Betriebsrenten für ihre Beschäftigten zu organisieren.

Betriebs- und Privatrenten sichern gut ab - aber vor allem Gutverdiener

Das Problem bei beiden wichtigen Säulen bleibt aber dasselbe: Sie kommen eher Beschäftigten mit guten oder hohen Einkommen zugute, während mit den Geringverdienern die größte von Altersarmut bedrohte Gruppe von derlei Absicherung weitgehend ausgeschlossen ist. Sie scheuen auch die Beiträge für eine private Rentenversicherung, selbst dann, wenn der Staat wie bei der Riester-Rente nicht wenig dazugibt. Somit sorgen Privat- und Betriebsrenten für die obere Hälfte der Einkommen sehr gut vor, auf mehr als die Hälfte der heute Erwerbstätigen wartet im Alter eine Betriebsrente, fast ebenso viele sorgen auch privat vor.

Dagegen haben die meisten Geringverdiener weder das eine noch das andere. Deshalb war immer mal wieder eine Pflicht zur privaten Altersvorsorge in der Diskussion, wurde aber stets schnell verworfen, weil es nicht so gut ankommt, Geringverdienern zusätzliche Ausgaben aufzuzwingen.

Sollen auch Beamte ins Rentensystem geholt werden?

Die Einnahmen lassen sich auch erhöhen, wenn mehr Leute einzahlen müssen. Die Forderung, alle Berufstätigen, also auch Beamte, Selbstständige und Freiberufler ins System zu stecken, taucht deshalb ebenfalls alle paar Jahre auf. Das würde mit einem Schlag die Situation entspannen. Allerdings würden auch sie Ansprüche erwerben, und zwar im Schnitt deutlich höhere als der heutige Durchschnitts-Angestellte, was das System wiederum belasten würde, wenn sie in Rente gehen.

Warum aber kriegen das andere Länder hin? Als Vorbilder genannt werden oft Österreich und die Schweiz. Österreich vor allem dann, wenn das Ziel lautet, die gesetzliche Rente müsse zum Leben reichen. Tatsächlich sind die Altersbezüge deutlich höher als in Deutschland – allerdings auch die Beiträge der Versicherten, sie liegen derzeit bei 22,8 Prozent. Die Beschäftigten zahlen 10,25 Prozent, die Arbeitgeber 12,55 Prozent. Die höheren Renten werden im Alpenland zudem höher besteuert als in Deutschland.

In der Schweiz zahlen die Reichen deutlich höhere Rentenbeiträge

Die Schweiz zahlt allen eine Mindestrente, in die auch jeder obligatorisch einzahlen muss. Dies im Unterschied zu Deutschland ohne Beitragsbemessungsgrenze, auch Einkommensmillionäre zahlen auf jeden Euro auch einen Rentenbeitrag. Das ist auch deshalb gut für die Solidarkasse, weil auch reiche Menschen keine besonders hohen Renten erhalten. Die staatliche Rente beträgt aktuell mindestens 1225 Franken (1338 Euro) und maximal 2450 Franken (2612 Euro). Dazu hat die Schweiz das wahrscheinlich am besten ausgebaute Betriebsrentensystem, was den meisten ein Alter ohne Armut garantiert.

Für Deutschland übernehmen ließe sich die Aufhebung der Beitragsbemessungsgrenze. Eine Begrenzung der Rentenhöhe gibt es bereits, sie liegt in Deutschland aktuell bei 3538 Euro. Mehr Geld in die Rentenkasse brächte es natürlich auch, wenn die Beiträge nicht nur auf die Löhne, sondern auch auf Erträge aus Zinsen, Mieten und Erbschaften erhoben würden. Das zöge eine Neiddebatte nach sich, die zu führen sich aber lohnen könnte.

Rentenbeiträge auch auf Zinsen, Mieten und Erbschaften?

Klar ist: Wegen des Bestandsschutzes der erworbenen Rentenansprüche würde auch der radikalste Systemwechsel nicht über Nacht, sondern erst in Jahrzehnten greifen. Deutschland muss deshalb zusehen, wie es halbwegs glimpflich und gerecht durch die kommenden Dekaden kommt. Dafür müsste es an allen Stellschrauben drehen. Wenn die Lebenserwartung der Menschen in Deutschland jedes Jahrzehnt um ein bis 1,5 Jahre steigt, müssen sie auch länger arbeiten, wenn das Umlagesystem nicht kollabieren soll. Und wenn weniger Berufstätige mehr Rentner finanzieren müssen, dann können die Renten nicht genauso stark steigen wie die Löhne. Und zumindest für die kommenden zehn sehr harten Jahre, in denen Adenauers Babyboomer das System fluten werden, müssen auch die Beiträge steigen.

Doch die Beschäftigten und Arbeitgeber dürfen nicht die Hauptlast tragen. Denn das kann auch nach ganz hinten losgehen. Läuft die Wirtschaft, verdienen die Leute gut, stützten sie auch die Rentenkasse. Bremst man die Konjunktur durch zu starke Beitragserhöhungen, verliert die Rentenkasse womöglich mehr Beiträge durch Firmenpleiten und Arbeitslosigkeit, als sie durch die höheren Beitragssätze einnimmt. Genau das darf nicht passieren, und die aktuelle Krise ist der denkbar schlechteste Zeitpunkt, ein solches Signal zu setzen.

Dies ist ein Artikel aus der Digitalen Sonntagszeitung, die für alle Zeitungsabonnenten kostenfrei ist. Hier können Sie sich freischalten lassen. Sie sind noch kein Abonnent? Hier geht es zu unseren Angeboten.