Essen. Neun Monate vor Kriegsende luden die Nazis Vertreter deutscher Konzerne zum Abendessen. Es ging um den Plan eines vierten Reiches.

„Der Krieg ist nicht mehr zu gewinnen“. So heißt die erste Botschaft der Nazis, die Dr. Scheid an diesem Abend an die Industriellen vermittelt. Das wurde vorher nie so eingeräumt. Die zweite Botschaft: Jetzt sei alles zu tun, um für die Zeit „danach“ Bargeld, Vermögen und auch Waffen ins neutrale Ausland zu schaffen und dort zu verstecken. Strohfirmen sind zu gründen. Verdeckt sollen per Fonds-Beteiligungen große internationale Unternehmen unterwandert werden. Beispielhaft erwähnt Scheid Patente zur Edelstahl-Produktion, die der Krupp-Konzern mit US-Firmen teilt.

Zu später Stunde, die meisten der wohl leicht irritierten Gäste sind gegangen, offenbart ein Dr. Bosse aus dem Reichskriegsministerium verbliebenen Vertretern von Krupp, Röchling und des Porzellanproduzenten Hescho: Es sei damit zu rechnen, dass zahlreiche aktuelle Nazigrößen und auch Adolf Hitler selbst durch alliierte Kriegsgerichte verurteilt werden und nicht mehr handeln können. Hitlers Partei will deshalb nach dem unausweichlichen Zusammenbruch in den Untergrund abtauchen, um von dort ein starkes Deutschland nach der Niederlage zu errichten. Ein „viertes Reich“. Dafür seien die Sicherung von Bargeld, Devisen, Gold und Kunstwerken nötig. Dafür auch die Firmenbeteiligungen und die Waffen.

Die Erzählung über diese verschwörerische Versammlung klingt verstörend. Drohten beim leisesten Zweifel am deutschen Sieg unvorsichtigen Plappermäulern damals nicht Todesstrafe oder KZ-Haft? Vielleicht hat die Geschichte deshalb kaum Eingang in die Zeithistorie gefunden. Aber Zeitzeugen mit bekannten Namen haben den Straßburger Überlebens-Plan der Nazis in eigenen Schriften und Berichten und mit unterschiedlichen Details festgehalten. Zu ihnen zählen der jüdische Holocaust-Forscher und Nazi-Jäger Simon Wiesenthal, Amerikas langjähriger Finanzminister Henry Morgenthau und das alliierte Oberkommando unter General Eisenhower.

Eisenhowers Stab war es offenbar gelungen, einen Doppelagenten aus Reihen des französischen Geheimdienstes Deuxieme Bureau in die geheime Runde im „Maison Rouge“ zu schleusen. Der namentlich Ungenannte hat mitgeschrieben. „Hauptquartier des Alliierten Expeditionskorps“, steht über seinem Geheimreport vom 17. November 1944 an Colonel Ford in Eisenhowers Befehlsstand. „Gegenstand: Plan deutscher Industrieller zum Engagement in Untergrundaktivitäten und Abfluss von Kapital in neutrale Staaten“. Wiesenthal, der nach Kriegsende für den US-Geheimdienst OSS im österreichischen Linz arbeitete, will die Dinner-Dokumente noch aus einer anderen, deutschen Quelle erhalten haben: Anfang 1946 sei das Protokoll bei einem Gefangenen im SS-Internierungslagers Ebensee bei Bad Ischl sichergestellt und ihm ausgehändigt worden. Und US-Finanzminister Morgenthau wusste detailliert von zwei Schweizer Banken, deren Namen den Gästen im „Maison Rouge“ genannt worden sein sollen. Über sie sollten die finanziellen Transaktionen laufen.

Wie haben Nazis und Industrievertreter die Pläne weiterentwickelt? Flossen Vermögen, gestohlene Kunstschätze und Anteile wirklich ins neutrale Ausland, wie am 10. August 1944 angedacht? Wurden Strohfirmen rund um den Globus eingerichtet?Spekulationen. Amerikanische Behörden müssen unmittelbar nach den ersten Berichten aus Straßburg weltweite Recherchen aufgenommen haben und nannten sie „Safehaven“ – sicherer Hafen. Noch 1945, im Jahr des Kriegsendes, hat das Washingtoner Schatzministerium einen Report zu ersten Ergebnissen aufgeschrieben: Danach sind im 2. Weltkrieg im Ausland 750 Firmen in deutschem Auftrag und mit deutschem Geld gegründet worden. Die meisten davon, genau 233, in der Schweiz. Weitere im damaligen Franco-Spanien. Aber auch 98 in Argentinien.

Gerade Argentinien ist ein brisanter Schauplatz. Denn deutsch-argentinische Firmen dienten nicht nur dem Verbergen und der Anlage von Kapital, das zu einem Großteil aus dem Milliarden schweren, widerrechtlich beschlagnahmtem jüdischen Eigentum bestand. In den Firmen fanden auch über die „Ratten-Linie“ per Schiff über den Seeweg von Genua aus geflohene Nazi-Funktionäre ein Versteck.

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2020 stieß der argentinische Staatsanwalt Pedro Filipuzzi in Buenos Aires auf einen Lagerraum in einem Haus, das einst ein Nazi-Quartier beherbergte. Er fand dort die Namenslisten von rund 12.000 emigrierten NS-Funktionären. Den Namen waren Konten zugeordnet, die offenbar auf Schweizer Banken deponiert worden waren. Namen und Konten sind inzwischen dem Simon-Wiesenthal-Center übereignet worden.

Zu einem Zentrum der Nazi-Aufnahme geriet nach seiner Gründung 1950 das Unternehmen des früheren SS-Hauptsturmführers Horst Carlos Fuldner, der 1992 im Alter von 82 Jahren starb. Offizieller Zweck der von ihm aufgebauten, 400 Köpfe starken Firma „Capri“ waren Vermessungen und Gesteinstests im unzulänglichen Urwaldgebiet des südamerikanischen Staates. Inoffiziell galt etwas ganz anderes: Fuldner soll dort neben einigen erfahrenen Technikern 300 flüchtige Nationalsozialisten unter falschen Namen untergebracht haben, mit Wissen und Deckung der Diktatur des Staatspräsidenten Juan Peron. Darunter Herbert Kuhlmann, Kommandeur der SS-Panzerdivision „Hitlerjugend“ und der NSDAP-Kreisleiter von Braunschweig, Berthold Heilig.

Der Fall Adolf Eichmann

Adolf Eichmann (2. v. l.), hier während seiner Vernehmung vor dem Bezirksgericht in Jerusalem, hielt sich lange in Argentinien versteckt. 
Adolf Eichmann (2. v. l.), hier während seiner Vernehmung vor dem Bezirksgericht in Jerusalem, hielt sich lange in Argentinien versteckt.  © picture alliance / dpa | dpa

Gefährlichster und meist gesuchter „Capri“-Mitarbeiter war jedoch der ehemalige Chef des Judenreferats des Reichssicherheitshauptamtes, Adolf Eichmann. Er hielt sich unter dem Namen Ricardo Clement in der „Capri“-Außenstelle Tucuman im Norden des Landes verborgen. Sein Schicksal war es, dort auf den Duisburger Ingenieur Gerhard Klammer zu stoßen. Klammer verriet Klement alias Eichmann seinem Freund und Pfarrer Giselher Pohl aus Unna, der über einen Bundeswehr-Bischof den hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer informierte. Der Mossad, den Bauer kontaktiert hatte, entführte Eichmann am 11. Mai 1960 in Buenos Aires. Die Israelis stellten ihn wegen sechsmillionenfachen Mordes an Juden vor Gericht. Er wurde zum Tode verurteilt und hingerichtet.

Für Simon Wiesenthal hat sich zwischen den Fluchtbewegungen über Genua nach Südamerika und der Konferenz von Straßburg am 10. August 1944 immer ein Zusammenhang ergeben. Er glaubte, dass dort eben nicht nur über Anlagen und Anteile der deutschen Wirtschaft zugunsten der Nationalsozialisten und eines möglichen vierten Reiches geredet wurde. Sondern auch über die Finanzierung der Massenflucht brauner Verbrecher in Länder wie Argentinien. Die Hilfs-Organisation „Odessa“ für Ex-SS-Leute lautete der Titel eines Romans von Fredric Forsythe („Akte Odessa“) von 1972 gewesen. Also eine Fiktion.

Gut 24 Stunden nach dem Ende der Konferenz im „Maison Rouge“ wurde die Innenstadt Straßburgs am 11. August 1944 von amerikanischen und britischen Flugzeugen mit Bombenteppichen eingedeckt. Im Hotel blieb keine Fensterscheibe heil.

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