NRW. Wenn Berufstätige neben der Arbeit Angehörige pflegen, ist das belastend. Zwei Frauen erzählen, wie sie diese Herausforderung gemeistert haben.
- Rund 600.000 Menschen werden in NRW von Familienangehörigen gepflegt. Die Pflege mit dem Job zu vereinbaren, ist für Arbeitnehmer schwierig.
- Beschäftigte können zur Entlastung ihre Arbeitszeit entweder reduzieren oder sich freistellen lassen.
- Zwei Arbeitnehmerinnen haben unterschiedliche Lösungen gefunden - und sind beide sehr zufrieden.
Plötzlich hat sich für Anne Ballke alles verändert: Ihr Vater erlitt einen Herzinfarkt. Ballke musste sich nicht nur um seine Pflege kümmern, sondern auch die ihrer demenzkranken Mutter übernehmen. Und das alles neben der Arbeit: Bei dem Essener Spezialchemieunternehmen Evonik arbeitet Ballke als Prozessingenieurin und Teamleiterin im Produktionsbetrieb, eine Vollzeitstelle mit Personalverantwortung. Wie soll das gehen?
Mehrmals in der Woche pendelte sie zwischen Bonn und dem Ruhrgebiet, um sich um ihre Eltern zu kümmern. „Man fährt nur noch zu den Eltern, um etwas zu regeln. Aber man verbringt keine unbeschwerte Zeit mehr miteinander“, sagt Ballke heute. „Es dauert eine Zeit lang, bis man sich selbst eingesteht, dass man das nicht packt. Die Arbeit und Konzentration leiden darunter und man ist unausgeglichen.“ Für sie war klar: Sie muss ihre Arbeitszeit reduzieren, um Job und Pflege besser vereinbaren zu können.
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Denn ein 40-Stunden-Job und die Pflege von Angehörigen ist auf Dauer eine enorme Belastung für den Körper, die seelische Gesundheit und die Work-Life-Balance vieler Arbeitnehmer. Rund 84 Prozent der Pflegebedürftigen in Deutschland werden zu Hause gepflegt. In NRW werden rund 600.000 Menschen von ihren Angehörigen gepflegt. Arbeitgeber können ihre Beschäftigten in solchen Fällen auf unterschiedliche Weise unterstützen, etwa durch eine Familienpflegezeit. Damit können Betroffene ihre Arbeitszeit für maximal 24 Monate auf bis zu 15 Stunden zu reduzieren. Für einen Zeitraum von zehn Tagen ist sogar eine spontane Freistellung möglich.
Evonik: Initiative Well@Work unterstützt bei Vereinbarkeit von Job und Pflege
Die Vereinbarung von Beruf und Privatleben ist im Unternehmen Evonik Teil der Initiative Well@Work, die sich auch mit Fragen der Ernährung, Bewegung und mentale Fitness auseinandersetzt. Michelle Mertmann, Hauptverantwortliche der Initiative, weiß: „Wenn Mitarbeiter in den Bereichen keine Unterstützung erfahren, haben sie oft ein Problem mit der Work-Life-Balance.“ Besonders die oft plötzlich und unvorhersehbare Pflege von Angehörigen sei immer häufiger bei Mitarbeitern Thema.
„Das Thema Pflege kommt immer schnell und unerwartet. Die Wenigsten bereiten sich auf das Thema vor, weil es unangenehm und nicht schön ist.“
Im monatlich stattfindenden Pflegestammtisch können Betroffene wie Anne Ballke ihre Fragen loswerden und sich beraten lassen. Denn: „Das Thema Pflege kommt immer schnell und unerwartet. Die Wenigsten bereiten sich auf das Thema vor, weil es unangenehm und nicht schön ist“, sagt Mertmann. In enger Absprache mit den Vorgesetzten könnten individuell die besten Lösungen für jeden Fall gefunden werden. In Ballkes Fall war die Familienpflegezeit die günstigste Option.
Arbeitsalltag ist für Betroffene Normalität und Ablenkung
Für neun Monate reduzierte sie ihre Arbeitszeit von 100 Prozent auf 60 Prozent. Für sie sei das die beste Lösung gewesen, um ihre Arbeit nicht ganz aufgeben zu müssen, aber gleichzeitig mehr Zeit für ihre Eltern zu haben. Statt fünf Tage in der Woche arbeitete die heute 50-Jährige montags bis mittwochs. In ihrer Abteilung sei sie die erste gewesen, die dieses Angebot wahrgenommen habe. Gemeinsam mit ihrem Chef habe sie überlegt, wie sie so weit entlastet werden könne, dass sie nicht 100 Prozent der vorherigen Arbeit in 60 Prozent der Zeit schaffen muss. Auch finanziell unterstützte sie der Arbeitgeber: Von den 40 Prozent der Gehaltsdifferenz glich Evonik einen Teil aus.
Im Sommer dieses Jahres starb ihr Vater im Alter von 94 Jahren. Ihre Mutter besucht Ballke heute regelmäßig im Pflegeheim. Seit Januar arbeitet Ballke wieder in Vollzeit. Eine komplette Auszeit sei für sie zu keinem Zeitpunkt eine Option gewesen. Ihr Arbeitsalltag habe Normalität in ihr Leben gebracht und sei oft eine willkommene Ablenkung gewesen, sagt die Bonnerin.
Sabbatical: Auszeit von der Arbeit, um Angehörige zu pflegen
Einen etwas anderen Weg ging Christina Müschen. Seit mehr als 16 Jahren arbeitet sie bei der DHL Group mit Sitz in Bonn. Sie ist dort „Director Change and Transformation“. Heißt: Wann immer ein neues System eingeführt wird oder Abläufe verändert werden, begleitet sie das im Team. Mit Veränderungen kennt sie sich also aus. 2018 wusste sie, dass sie Zeit brauchen werde, um die Pflege ihres Vaters zu organisieren. Sie entschied sich, ein „Sabbatical“ einzulegen: Für drei Monate pausierte sie ihre Arbeit.
„Die Entscheidung war von großem Verständnis geprägt“, sagt die 51-Jährige. Trotzdem habe sie darüber nachgedacht, dass ihre Kollegen ihre Arbeit übernehmen müssen. „Natürlich ist da der Gedanke, dass die Arbeit, die liegen bleibt, von anderen übernommen werden muss“, sagt Müschen. „Es ist klar, dass das die Kollegen mehr belastet. Ich habe von den Kollegen dennoch nur positiven Rückhalt bekommen.“
Die ersten Wochen nutzte sie so intensiv, dass im Anschluss sogar noch Zeit für eine Reise nach Israel blieb. Auch ihre Work-Life-Balance brachte sie dadurch wieder ins Gleichgewicht. „Es war eine totale Entlastung, weil ich den Kopf frei hatte. Ich konnte mich auf die Pflege konzentrieren.“