Essen. Das Leben im Pflegeheim wird immer teurer. Menschen verkaufen Eigentum, räumen Sparkonten – oder gehen zum Amt. Eine Ehefrau erzählt.

Während des Gesprächs meldet sich mehrfach das Handy. Die ältere Dame im weißen Strickpullover steht überraschend flink von ihrem Küchenstuhl auf und geht zum Regal. Das sei ihre Freundin, sagt sie nach einem kurzen Blick aufs Telefon. Sie schicke ihr Wohnungsanzeigen. „Tja, wo nur werde ich landen?“, fragt sie.

Ihr Blick geht kurz in den Garten mit den dicht gewachsenen Rhododendronbüschen. Über 60 Jahre hat die Frau in diesem Haus gelebt, das irgendwo im Ruhrgebiet steht. Nun muss sie das Haus verkaufen. Um die Pflege ihres Mannes zu bezahlen.

Unter pflegebedürftigen Menschen wächst die Zahl der Sozialhilfe-Empfänger

30 Jahre ist es her, da ging die Pflegeversicherung mit einem Versprechen an den Start: Wer pflegebedürftig wird, sollte nicht mehr von Sozialhilfe abhängig sein. Dieses Versprechen ist längst gebrochen. Denn das Leben und die Pflege im Heim sind immer teurer geworden. Zugleich decken die Leistungen der Pflegekasse nur einen Teil der Kosten.

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Den Rest, den Eigenanteil, tragen die Bewohner – und dieser Rest wächst rasant. Laut Verband der Ersatzkassen liegt er in NRW derzeit bei durchschnittlich 3200 Euro pro Monat im ersten Jahr des Aufenthalts – das kann kaum jemand selbst bezahlen. Die Folge ist eine neue Generation von Sozialhilfeempfängern: Auch Menschen, die berufstätig waren und fürs Alter vorgesorgt haben, müssen zum Sozialamt, um „Hilfe zur Pflege“ zu beantragen. 

In NRW beziehen inzwischen über 77.000 Menschen diese Sozialhilfe, die meisten von ihnen, rund 64.500, leben im Heim. Damit bezieht fast jeder dritte Heimbewohner Sozialhilfe. Die Ausgaben für Hilfe zur Pflege sind innerhalb eines Jahres um über 23 Prozent auf 975 Millionen Euro gestiegen – nur in NRW.

„Wir besitzen nichts mehr von dem, was wir fürs Alter angespart haben“

Doch obwohl so viele Menschen betroffen sind, ist das Schamgefühl oft groß. Kaum jemand will über die eigene Situation sprechen, schon gar nicht öffentlich. Bleibt der Name ungenannt, erfährt man von Pflegebedürftigen, die ihre gesamte Einkommenslage beim Sozialamt offenlegen mussten, von Ehepartnern, die ihr Auto verkaufen und eigene Zusatzversicherungen gekündigt haben.

Da ist von vielen Dokumenten und manchmal unverständlichen Formularen die Rede, davon, dass Senioren Geld von ihren Kindern zurückfordern müssen, bevor der Sozialstaat zahlt. Steuergeld auszugeben, das will gut geprüft werden – die Betroffenen fühlen sich oft durchleuchtet und in einer ohnehin schon belastenden Situation als Bittsteller.

Und immer wieder ist enorm viel Verzweiflung zu spüren. „Wir haben unser Leben lang gearbeitet, Steuern gezahlt, fürs Alter gespart und Versicherungen abgeschlossen, so wie es von der Regierung immer empfohlen wird und uns nie etwas zu Schulden kommen lassen“, schreibt eine Ehefrau eines jung pflegebedürftig gewordenen Mannes an die Redaktion. Sie habe Angst vor der eigenen Altersarmut. „Wir besitzen nichts mehr von dem, was wir fürs Alter angespart haben.“

Fast ein Dutzend Kostensteigerungen und Nachzahlungen in zweieinhalb Jahren Heim

Eine weitere Geschichte spielt in diesem Haus im Ruhrgebiet. Dort sitzt die 80 Jahre alte Frau – die Haare hochgesteckt, die Fingergelenke geschwollen von der Arthrose – am Küchentisch vor einem Zettel. Detailliert hat sie notiert, wie viel das Heim ihres Mannes in den vergangenen zweieinhalb Jahren gekostet hat, jede Preissteigerung ist dort notiert, hier sollen sie nur gerundet wiedergegeben werden.

Etwa 2200 Euro habe sie 2022 jeden Monat für den Heimplatz gezahlt. Nach der letzten Erhöhung sind es nun über 1000 Euro mehr. Fast ein Dutzend Kostensteigerungen oder Nachzahlungen hat sie vermerkt. Die Zahl unterm Strich ist gewaltig: Mehr als 82.000 Euro habe sie bislang für den Heimplatz dazu gezahlt, dazu kämen noch Gelder für Medikamente, Krankenhausaufenthalte, Kleidung – und ihre eigenen Lebenshaltungskosten.

Die Rente ihres Mannes und ihr eigenes kleines Ruhegeld reichten nicht im Entferntesten aus, die Ausgaben zu decken, sagt sie. „Unsere Ersparnisse sind bis auf einen kleinen Puffer weg.“ Das Haus könne sie bei den laufenden Kosten nicht mehr halten – auch wenn die selbst bewohnte Immobilie sowie ein Schonvermögen von 20.000 Euro für das Paar eigentlich erlaubt sind. Sie sei zum Sozialamt gegangen, um nach Hilfen zu fragen: „Da hieß es, das Haus ist zu groß für mich“, sagt die Frau. Statt Sozialgeld für den Mann bekam sie einen Wohnberechtigungsschein – die Frau hat also so wenig Geld für sich selbst, dass sie in eine Sozialwohnung ziehen könnte.

Sie kümmerte sich immer um jemanden: um Kinder, Enkel, Eltern, dann den Mann

Sie hat immer gearbeitet, aber oft unentgeltlich: Erst wurden die Kinder, dann die Enkel gehütet, die Mutter und der Schwiegervater gepflegt. Und dann eben ihr Mann. Er sei immer ein Eigenbrötler gewesen, im Beruf viel unterwegs, aber eher stiller. Die Demenzerkrankung kam schleichend. Einfache Dinge gelangen nicht mehr, er wirkte zerstreut, schloss sich aus, stürzte einmal so schwer, dass er sich vor Scham verkroch.

Als er plötzlich nicht laufen konnte, trug sie ihn mit damals Mitte 70 auf dem Rücken die Treppe hinunter. Als er überall urinierte, putzte sie hinter ihm her. Es gab 125 Euro im Monat für eine Putzhilfe und Pflegegeld, doch am Ende zog der Hausarzt die Reißleine: Komme ihr Mann nicht ins Heim, werde sie selbst bald pflegebedürftig, habe er gewarnt.

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Das Haus wird verkauft, die Kinder leihen Geld – und dann?

Sie habe sich anfangs richtig befreit gefühlt. „Aber das bin ich nicht.“ Sie spricht über die Besuche bei ihrem Mann mit einer Trauer, als habe sie ihn schon verloren. Inzwischen hat er Pflegegrad 5, den höchsten. Man spürt auch ihren Frust darüber, eine Pflege zu bezahlen, deren Ziel sie nicht nachvollziehen kann.

Wie teuer stationäre Pflege sein kann, darüber hätten sie früher nie gesprochen. Ihr Mann sei kurz auch mal arbeitslos gewesen, ja, es habe deshalb Abschläge bei der Rente gegeben, aber sie seien gut zurechtgekommen und hatten Geld angelegt. Sie sei dann zur Bank gegangen, habe mit dem Berater einen Plan erstellt, wie sie die Heimkosten finanzieren kann. Doch die vielen Erhöhungen warfen alles über den Haufen. Jetzt weiß sie, dass sie sich im nächsten Jahr Geld von den Kindern leihen muss, bis das eigene Haus verkauft, ausgeräumt, verlassen ist.

Und dann? Wenn man sie nach ihrer eigenen Zukunft fragt, spricht die Frau sehr düstere Gedanken aus. Sie sagt auch, dass sie ihre Nachbarschaft vermissen werde, dass sie gar nicht weiß, ob sie in einem neuen Umfeld zurechtkommt. „Ich bin wie ich bin und bestimmt nicht einfach.“ Darüber, unter welchen Umständen sie selbst einmal gepflegt werden könnte, spricht sie nicht.