Dortmund. Polizist Fabian S. steht vor Gericht, weil er Mouhamed Dramé getötet hat. Nun spricht er im Interview über die Folgen der Tragödie.
Fabian S. möchte reden. Fast zwei Jahre lang haben immer nur die anderen geredet, über das, was mit Mouhamed Dramé geschah, und über ihn: den Polizisten, der auf den jungen Mann aus dem Senegal geschossen hat. Der ihn erschossen hat: „Ich will das nicht beschönigen.“ Die Dortmunder Staatsanwaltschaft wirft dem 30-jährigen Polizeikommissar Totschlag vor, im Prozess hat der Angeklagte seine Aussage inzwischen gemacht. Es ist noch nicht vorbei, ein Urteil wird frühestens im September erwartet. Aber Fabian S. hat jetzt „das Bedürfnis, etwas zu sagen“.
Man hat ihn einen Mörder geschimpft, das war ihm „unangenehm“, und einen Rassisten, das hat ihn „am schwersten getroffen“. Weil er doch glaubt, jeden Menschen fair zu behandeln. Seine Familie weiß das, seine Freunde wissen es, und schließlich haben die Ermittler auch sein Handy ausgewertet: „Nichts.“ Deshalb ließ Fabian S. seinen Verteidiger am ersten Prozesstag diesen Satz sagen: „In der angespannten Situation kam es meinem Mandanten auf die Hautfarbe von Dramé überhaupt nicht an.“
16 Verhandlungstage lang, seit dem vergangenen Dezember, sitzt der 30-Jährige jetzt auf der Anklagebank des Dortmunder Landgerichts. Zusammen mit zwei Kolleginnen und zwei Kolleginnen, denen Körperverletzung und die Anstiftung dazu vorgeworfen wird. Sie sollen verantwortlich dafür sein, dass die Lage am 8. August 2022 im Innenhof einer Jugendeinrichtung in der Nordstadt ein dramatisches Ende nahm: Mouhamed Dramé, 16 Jahre alt und seit einigen Monaten in Deutschland, starb nach Schüssen aus der Maschinenpistole, die Fabian S. auf ihn richtete. Dabei sollten die Polizisten den jungen Mann davor bewahren, sich mit einem Messer selbst etwas anzutun.
S. weiß, er wird „die Gegenseite“ nicht überzeugen können
16-mal also kam Fabian S. als Hauptangeklagter durch eine Seitentür ins Gericht, heute kommt er einfach durch den Haupteingang. Statt des dunklen Pullovers ein weißes Freizeithemd, kein Saal mit großem Publikum, kein Aktendeckel vor dem leicht geröteten Gesicht; in einem von Juristen eingerichteten Büroraum blickt der Polizeikommissar sein Gegenüber direkt an. Warum ist er heute hier? Die Befragung durch die Prozessbeteiligten ist vorbei, jetzt möchte S. der „Gegenseite die Deutungshoheit“ nicht länger überlassen. Auch sein Rechtsanwalt hält den Zeitpunkt für einen guten.
Die „Gegenseite“, das sind für S. die Unterstützer Dramés, die Solidaritätsgruppen, die seit zwei Jahren Gerechtigkeit für Mouhamed fordern, zu jedem Gerichtstermin Mahnwache halten und gegen Polizeigewalt auf die Straße gehen. Dabei: „Es gibt nicht nur ,die Polizei‘“, sagt Fabian S., „gefühlskalt und die dieses oder jenes falsch gemacht hat. Da stehen Menschen dahinter. Nicht nur eine Uniform.“ S. weiß, er wird nicht alle überzeugen können. Aber es ist ihm anzumerken, wie es ihn erleichtert: Heute geht es um seine Sicht.
Die Waffe richtete er schon oft auf Menschen. Abdrücken musste er noch nie
Natürlich soll er auch noch mal erzählen, wie es war damals, zwei Stunden vor Dienstende. Polizeikommissar S. arbeitete von zehn bis 18 Uhr an jenem Montag, im Sommer „die unbeliebteste Schicht“. Er ist schon seit seinen ersten Polizeitagen auf der Wache Nord, kennt die Dortmunder Nordstadt. Schon häufig musste er hier die Waffe auf jemanden richten. Abdrücken noch nie. Er wurde auch schon oft zu Menschen gerufen, die sich selbst töten wollten.
Aber etwas war diesmal anders. „Komisch“, dass Mouhamed gar nicht reagierte, Fabian S. hatte das so noch nie erlebt: „Normalerweise kann man mit den Leuten reden, viele wollen auch reden.“ Mouhamed nicht. Der kauerte, so haben es die Zeugen ausgesagt, in einer Ecke im Hof, die Spitze des langen Küchenmessers in seinen nackten Bauch gedrückt. Ruhig habe er gewirkt, sagt S. Die Kollegen sprachen ihn vergeblich an, schließlich gab der Einsatzleiter den Befehl zum „Einpfeffern“. Aber Pfefferspray, Taser hatten nicht die gewünschte Wirkung: Bisher, sagt der Mann, der als „Sicherungsschütze“ im Hintergrund stand, hätte noch jeder das Messer fallen lassen in solchen Situationen. „Die Hoffnung hatte ich auch diesmal.“
Doch Mouhamed richtete sich auf, lief nach S.‘ Darstellung „gerade auf uns zu. Ein paar Meter waren das schon“. Den Kollegen sei er „sehr nah“ gekommen, weniger als sieben Meter, wie Polizei-Regeln vorschrieben. „Der muss doch jetzt stehenbleiben“, will der Polizist gedacht haben, „noch weiter darf er nicht laufen.“ Es müssen schnelle Gedanken gewesen sein, alles dauerte nicht einmal eine Sekunde. Sechs Schüsse, gab er ab, fünf trafen.
Polizist: „Der muss doch jetzt stehenbleiben, noch weiter darf er nicht laufen“
Warum so viele? Bei der Polizei nennen sie das die „Mannstopp-Wirkung“. „Es ist ein Mythos, dass ein Schuss eine Person aufhalten kann.“ Die Waffe müsse fallen, „auf die kurze Entfernung hätten die Kollegen gar nicht mehr handeln können“. S. sagt: „Ich habe so gehandelt, wie ich es gelernt habe.“ Niemand wünsche sich, schießen zu müssen. Er habe sich über den Verletzten gebeugt und nachgesehen, „nicht lebensbedrohlich“ dachte er noch. Ein „Funken Erleichterung“ sei das gewesen: „Dass ich nicht so getroffen habe, dass er stirbt.“
Aber Mouhamed starb, wenig später im Krankenhaus. Fabian S. war im Schreibraum der Wache, als er das erfuhr. „Der ist verstorben“, sagte ein Kollege. Ein Augenblick, der sich für ihn wie ewig anfühlte. „Man weiß, dass es so ist, aber man kann es nicht glauben. Man weiß es, aber man realisiert es nicht.“ Fabian S. sagt selten „ich“, er sagt meistens „man“. Als ginge es nicht um ihn, sondern um jemand anderen. Er hat das auch in seiner Aussage vor Gericht schon so gemacht, es ist wohl der Versuch, sich selbst zu schützen.
Schüsse auf Mouhamed: „Ich habe getan, was die Kollegen von mir erwartet haben“
Aber vor den Tatsachen kann Fabian S. sich nicht schützen. „Ich habe ihn erschossen.“ Vor Gericht hat er das so erklärt: „Ich habe getan, was die Kollegen von mir erwartet haben.“ Haben die sich je dafür bedankt? „Ja“, sagt S. leise, diesmal schaut er sein Gegenüber nicht an. Wie oft hat er seither darüber nachgedacht. „Das wird man nicht los.“ Beim Grübeln komme er immer wieder zum selben Ergebnis: „Ich hätte nichts anders machen können. Ich kann es vor mir selbst und meinem Gewissen rechtfertigen.“ Sagt es, und man sieht ihn zweifeln.
Fabian S. denkt oft nach über Mouhamed Dramé. „Was für ein Mensch er war.“ Sein Gesicht hat er täglich vor Augen, er liest alles, immer noch. Weiß viel über den Mann, den er getötet hat. „In einer anderen Welt hätten wir uns vielleicht gut verstanden.“ Der Altersunterschied zwischen den beiden war womöglich auch gar nicht so groß: Nach allem, was inzwischen bekannt ist, dürfte der Senegalese tatsächlich deutlich älter gewesen sein als 16 Jahre.
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Im Gerichtssaal hat sich Fabian S. direkt an Mouhameds Brüder gewandt, die ihm direkt gegenübersitzen. Es sei ihm wichtig gewesen, sie anzusprechen, „das haben sie verdient. Und es hat auch etwas von mir genommen“. „Es tut mir sehr leid“, sagte er am 22. Mai. „Ich könnte mir nie vorstellen, wie es ist, ein Familienmitglied zu verlieren“, er wiederholt den Satz nun im Gespräch. „Ich weiß, dass ich für seinen Tod verantwortlich bin.“
Als der Staatsanwalt diese Sicht der Dinge in seine Anklage schrieb, hätte S. am liebsten sogleich reagiert. „Ungerechtfertigt“ seien die Schüsse gewesen, steht da, der Schütze habe den Tod in Kauf genommen. Ein paar Wochen noch taten die fünf Polizisten damals weiter Dienst, oft standen die Demonstranten vor der Tür der Wache, schrien „Mörder!“ Dann kam die Suspendierung. Ein Schock, der wehtat: „Es wird einem verboten, was man aus Überzeugung und sehr gerne macht.“ Bald sind es zwei Jahre, die Fabian S. zu Hause verbringt, sein Gehalt kommt weiter. Er renoviert das Haus seiner verstorbenen Oma, die körperliche Arbeit hilft.
Deshalb ist er Polizist geworden: „Ich möchte Menschen helfen“
Aber er möchte zurück in seinen Beruf. „Weitermachen.“ Wieder auf die Straße, in den Wach- und Wechseldienst, am liebsten auch in die Nordstadt. Es war für Fabian S. kein Kindheitstraum, Polizist zu werden, aber nach dem Abi habe er gewusst, was er will. „Aus Überzeugung. Ich halte das System der freiheitlich-demokratischen Grundordnung für schützenswert.“ Das klingt nun wie ein Ausschnitt aus dem Amtseid, aber S. hatte damals noch einen Grund: „Ich möchte Menschen helfen.“
Wer nachfragt, hört die Geschichte vom alten Mann, der sich ausgesperrt hatte, dem er wieder in seine Wohnung half. „Lappalien“, sagt er selbst, aber so etwas vergisst er nicht. Eine seiner liebsten Erinnerungen hat ebenfalls mit einem drohenden Suizid zu tun: Da suchte er mit einer verzweifelten Mutter stundenlang deren lebensmüde Tochter. Mit Erfolg, später kamen beide, um sich zu bedanken.
Fall Mouhamed Dramé: Ob es Notwehr war, entscheidet das Gericht
Dass aber auch der Gebrauch einer Waffe zum Beruf gehört, hat Fabian S. natürlich gewusst. Zu glauben, Polizisten trügen ihre Waffe „40 Berufsjahre lang nur zum Spaß“, findet er „naiv“. Und hat „trotzdem gehofft, dass man nie schießen würde“. Er hat sich Gedanken darüber gemacht, zu Beginn der Ausbildung: „Kann ich das überhaupt?“ Auch bei jenem Einsatz in der Dortmunder Nordstadt war ihm klar, dass er die Maschinenpistole möglicherweise gebrauchen musste. „Das kalkuliert man ein. Aber wie man damit umgeht, wenn es wirklich passiert, kann man vorher nicht wissen.“
Ob der Polizist sich wirklich wehren durfte in der Not, muss das Gericht entscheiden. Und damit, ob Fabian S. wieder arbeiten darf. Wie wahrscheinlich aber ist ein Freispruch? S. ist optimistisch. „Aber auch realistisch.“ Die 39. Große Strafkammer verhandelt am Freitag (5. Juli) weiter.