Berlin. Immer mehr Jugendliche entwickeln Essstörungen. Experten erklären, wo Gefahren lauern und welche Alarmzeichen Eltern beachten sollten.
„Thigh Gap“ oder „Legging Legs“, „Paper Waist“ oder „A4-Taille“: Hinter diesen hippen Namen stecken riskante Schönheitstrends, die in sozialen Medien immer wieder propagiert werden – und die Psyche stark belasten können. Bei Instagram, TikTok und ähnlichen Netzwerken stoßen insbesondere Jugendliche mitunter täglich auf perfekt inszenierte Bilder von vermeintlich perfekten Körpern. Die unrealistischen Körpertrends wecken laut Experten Selbstzweifel bei den jungen Menschen, die zu seelischen Erkrankungen wie Essstörungen führen können.
Essstörungen: Starker Anstieg bei Mädchen von 12 bis 17 Jahren
Junge Frauen sind dabei offenbar besonders betroffen: So sind die Fälle von Magersucht, Bulimie und wiederkehrenden Essanfällen (Binge Eating) bei den 12- bis 17-jährigen Mädchen in den vergangenen Jahren stark angestiegen. Das ergab eine Erhebung der KKH Kaufmännische Krankenkasse, die dieser Redaktion exklusiv vorliegt. Demnach zeigt sich von 2012 auf 2022 ein Anstieg von 90 auf 139 Fälle pro 10.000 Versicherte – ein Plus von rund 54 Prozent.
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Einen deutlichen Anstieg der Essstörungen unter Teenagerinnen verzeichnete die KKH insbesondere während der Corona-Pandemie: Allein vom Vor-Corona-Jahr 2019 auf 2022 ermittelte die KKH bei ihnen eine Zunahme von 38 Prozent, von 101 auf 139 pro 10.000 Versicherte.
Auffällig: Im Vergleich zu den gleichaltrigen Jungen mit Essstörungen (38 Fälle pro 10.000 Versicherte) fällt laut Erhebung der Anteil der 12- bis 17-jährigen Mädchen etwa viermal so hoch aus, verglichen mit dem Bundesdurchschnitt (54 Fälle pro 10.000 Versicherte) gut zweieinhalbmal so hoch.
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Laut KKH-Psychologin Franziska Klemm sind gerade junge Frauen anfällig für gestellte Bilder und unrealistische Körpertrends in den sozialen Netzwerken. „Sie vergleichen sich intensiver in sozialen Medien als gleichaltrige Jungen und beschäftigen sich stärker mit sich selbst. Außerdem spüren sie einen höheren Druck, Schönheitsidealen zu entsprechen.“ Im Jahr 2022 wurden laut der KKH-Hochrechnung insgesamt rund 455.000 Menschen in Deutschland wegen Magersucht, Bulimie oder Binge Eating ambulant behandelt.
Absurde Schönheitstrends im Netz belasten Teenagerinnen
Erst Ende vergangenen Jahres sorgte wieder ein gefährlicher Schönheitstrend für Aufsehen bei Instagram, TikTok und Co.: Unter dem Hashtag #legginglegs posteten Frauen Videos in engen Hosen. Dabei priesen sie die sichtbare Lücke zwischen ihren Oberschenkeln an. Schon vor einem Jahrzehnt ging unter dem Namen „Thigh Gap“ (zu Deutsch: Oberschenkel-Lücke) ein ähnlicher Hype durch die Netzwerke, wonach ein durchgängiger Freiraum zwischen den Innenseiten der Oberschenkel als besonders begehrenswert gelte.
Franziska Klemm warnt vor solchen Körpertrends. Sie ist Psychologin und Mitarbeiterin im Fachbereich Prävention der KKH Kaufmännische Krankenkasse. Ihre Fachgebiete sind Stress, Sucht sowie psychosoziale Gesundheit bei Kindern und Jugendlichen. „Es ist immer kritisch, wenn jungen Frauen in sozialen Netzwerken eingeredet wird, dass ihre Schönheit und ihr Selbstwert von einer unnatürlich schmalen Taille oder einer Lücke zwischen den Oberschenkeln abhängen, vor allem, weil es oftmals nicht in ihrer Macht liegt, dieses unnatürliche Körperbild zu erreichen“, sagt Klemm.
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Schließlich ist eine als schön angepriesene Lücke zwischen den Oberschenkeln nicht nur über ein bestimmtes Körpergewicht und Fitness herbeizuführen, sondern ebenso bedingt durch den Körperbau. „TikTok-Trends wie Legging Legs zeigen, wie riskant soziale Medien für das eigene Körperbild sein können. Denn viele junge Frauen hinterfragen ihren Körper und ihr Essverhalten, wenn sie sehen, dass enge Hosen angeblich nur für Menschen mit dünnen Beinen gemacht sind“, so die Expertin der KKH. Bei der sogenannten Paper Waist Challenge vor einigen Jahren ging es um den Ansporn, auf Fotos zu beweisen, dass die eigene schmale Taille hinter einem A4-Blatt (21 mal 29,7 Zentimeter) nicht mehr sichtbar ist.
Instagram, TikTok und Co. beeinflussen eigenes Körperbild
Unrealistische Schönheitstrends wie diese sind Experten zufolge außerdem häufig Anlass für sogenanntes Bodyshaming: Wer einem Idealbild nicht entspricht, muss im Netz zuweilen mit abfälligen Bemerkungen oder gar ausgrenzenden Beleidigungen rechnen. Besonders häufig Opfer: Mädchen und Frauen, die immer noch stärker über ihr Aussehen definiert werden als Männer.
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Fachleute und Studien sehen einen Zusammenhang zwischen der intensiven Nutzung sozialer Medien und dem Risiko, unzufrieden mit dem eigenen Körper zu sein – eine Ursache für Bodyshaming und Essstörungen. Besonders anfällig für Essstörungen: Heranwachsende, die schon unter seelischen Problemen leiden oder ein geringes Selbstwertgefühl haben.
Essstörungen: Auf diese Alarmzeichen sollten Eltern achten
KKH-Psychologin Franziska Klemm sieht auch das Umfeld der Heranwachsenden in der Pflicht. Sie ruft Eltern, Angehörige, Freunde, Bekannte sowie Lehrer dazu auf, auf Alarmzeichen zu achten. Dazu zählen:
- Betroffene betreiben unverhältnismäßig viel Aufwand für das eigene Aussehen,
- sie geben geliebte Hobbys plötzlich auf und beschäftigen sich nur noch mit sozialen Medien,
- sie ziehen sich aus sozialen Beziehungen zurück,
- sie zeigen Gewichtsveränderungen sowie ein auffälliges Essverhalten, dazu zählen andauernde Diät, eingeschränkte Nahrungsauswahl, der Verzehr großer Mengen,
- Erbrechen beziehungsweise die Einnahme von Abführmitteln und
- exzessiver Sport.
Psychologin Klemm betont mit Blick auf solche gefährlichen Verhaltensweisen: „Bulimie und Magersucht sind schwere psychische Erkrankungen, die häufig mit Angststörungen, Depressionen, selbstverletzendem Verhalten oder Suchterkrankungen einhergehen und ärztlich behandelt werden müssen.“