Essen. . Sucht hat viele Gesichter. Keins davon ist schön. Gleichgültig, ob man trinkt, Tabletten einwirft oder nicht vom Glücksspiel lassen kann. Sucht ist vernichtend. Nicht nur für diejenigen, die süchtig sind, sondern auch für die Menschen, die ihnen am nächsten stehen. Und ihnen helfen wollen.
Als ich aus dem Konzert zurückkam, blinkte der Anrufbeantworter. Sie war es. Ihre Stimme klang verwaschen. Sie weinte. Ich konnte kaum verstehen, was sie sagte. Aber einen Satz verstand ich. „Ich bringe mich um.“ Erreichen konnte ich sie weder über Festnetz, noch über Handy. Überall lief nur die Mailbox. Also bin ich zu ihr gefahren. Habe geklingelt, wieder und immer wieder. Und als ich im Haus war, an ihre Tür geklopft. Schließlich so laut, dass sich die Nachbarn beschwerten.
War sie schon tot? Oder womöglich schwer verletzt? Wäre ich nur früher wieder zuhause gewesen. Oder hätte das Konzert abgesagt. Oder… Am Ende habe ich die Polizei angerufen. Die hat dann die Feuerwehr alarmiert. Und den Notarztwagen. Mit einer Leiter sind sie über den Balkon in ihre Wohnung. Ich stand immer noch vor der Tür. Mein Herz klopfte wie wild. Ich kenne sie seit vielen Jahren. Seit zehn dieser Jahre trinkt sie. Und dann ging die Tür auf…
Suchtverhalten belastet auch andere
Partner, Angehörige und Freunde von Suchtkranken müssen früher oder später feststellen, dass sie das Suchtverhalten mit runterzieht. Weil es sie überfordert, weil es sie an Grenzen bringt und irgendwann auffrisst. Mitgefangen, mitgehangen. In einem Mahlstrom aus Hoffnung, Verzweiflung und der Frage, ob all das, was man tut, auch wirklich hilft. Ist man noch Retter? Oder schon längst Komplize? Auch in den Augen der anderen, die schon lange kein Verständnis mehr dafür haben, dass man immer wieder auf den Trinker, den Tabletten-Junkie oder den Spieler und seine Beteuerungen hereinfällt. Da hilft bloß eins – fallenlassen. Wirklich?
Von Abhängigkeit Mitbetroffene – von denen es in Deutschland zwischen fünf und sieben Millionen Menschen gibt – stehen unter enormem Leidensdruck. Sie haben erlebt, wie jemand, der ihnen Mann oder Frau oder Kind oder Freund ist, das Interesse an Dingen verliert, die ihm vorher immer wichtig waren. Wie er immer häufiger Ausreden findet, wenn es darum geht, sich in der Öffentlichkeit zu zeigen. Verabredungen absagt oder nicht einhält, Versprechungen macht und sie dann bricht. Wie er anfängt, Dinge zu verheimlichen oder Tatsachen zu beschönigen. Zu lügen, zu tricksen, zu betrügen. Aggressiv zu werden, sich selbst und andere zu verletzen. Abzutauchen. Und vorher vielleicht sogar zu stehlen. Im eigenen Haushalt.
Sozial isoliert – weil sie mit ihrem Partner nicht auffallen wollen
Besonders schlimm ist das für diejenigen, die mit einem suchtkranken Partner zusammenleben. Das weiß auch Dr. med. Rüdiger Holzbach, Chefarzt der Abteilung Suchtmedizin der LWL-Kliniken Lippstadt und Warstein. „Das Risiko, stressbedingt zu erkranken, ist bei diesen Menschen um ein Vielfaches erhöht, häufig geraten sie auch in eine soziale Isolation, weil sie mit dem Partner nicht auffallen wollen. Es gibt zwar Hilfsangebote für diese Gruppe, aber die werden von weniger als zehn Prozent aller Betroffenen genutzt“, sagt der 52-jährige Mediziner.
Wer tagtäglich mit der Sucht an seiner Seite lebt, neigt dazu, sich selbst Vorwürfe zu machen: „Aber irgendwann kippt das. Und dann macht man dem anderen Vorwürfe. Das könnte zur Trennung führen. Tut es aber oft nicht. Weil man sich fragt: ,Was wird dann aus ihm, wenn ich ihn verlasse? Oder: ,Komm’ ich alleine zurecht?’ Häufig sind wirtschaftliche Abhängigkeiten im Spiel. Und dann neigt man lieber dazu, Symptome zu ignorieren oder Verhaltensweisen zu bagatellisieren. Das ist ein ganz fataler Teufelskreis.“
Früher wurden die Angehörigen als co-abhängig bezeichnet
Den Begriff „Co-Abhängigkeit“ prägte in den 1950ern die Selbsthilfebewegung der Angehörigen Anonymer Alkoholiker in den USA. Mitte der 1980er-Jahre wurde er auch in Deutschland gebräuchlich. „Heute spricht man aber eher von ,Angehörigen von Suchtkranken’. Dieser Begriff ist exakter, weil natürlich nicht jeder Angehörige von Suchtkranken co-abhängig ist, beziehungsweise sich co-abhängig verhält. Angehörige werden aber schnell generalisiert als Co-Abhängige bezeichnet, was sie stigmatisiert“, sagt Dr. Christoph Stichelbach, Oberarzt und Kommissarischer Leiter der Fachklinik Kamillushaus in Essen.
Wer tatsächlich co-abhängig ist, so der 51-Jährige, lässt, „etwas vereinfacht gesagt, seine ganze Energie und Hilfsbereitschaft in die Unterstützung des Suchtkranken fließen, oft vor dem Hintergrund, damit das eigene Selbstwertgefühl zu stärken. Durch diesen „Gewinn“ für die eigene Persönlichkeit kommt es dann nicht selten zu einem Verhalten, dass die Suchterkrankung beim Angehörigen sogar noch fördert und unterhält. Zum Beispiel wird das Suchtmittel vom Angehörigen besorgt oder er wird beim Arbeitgeber entschuldigt. Deshalb sind Selbsthilfegruppen für Angehörige zum Erkennen und Verändern des eigenen Verhaltens dem Suchtkranken gegenüber so wichtig!“
Alkohol ist das Hauptsuchtmittel in Deutschland
Auch Rüdiger Holzbach findet es besser, von „Mitbetroffenen“ zu reden. Weil es ihre tatsächliche Situation besser charakterisiert: „Co-Abhängiger, das hört sich an wie ein Schimpfwort“, sagt der Mediziner, „das hat etwas mit Schuldzuweisung zu tun. Weil es den Vorwurf beinhaltet, dass es hier um jemanden geht, der einen Faktor darstellt, der die Sucht aufrechterhält. Der aber, würde er stärker sein und mehr Einfluss nehmen, dafür sorgen könnte, dass der Partner aufhört, zu trinken. Trinken ist nur ein Beispiel, aber Alkohol ist das Hauptsuchtmittel in Deutschland.
Rund zehn Prozent der Bevölkerung haben ein Problem damit, dass sie einen riskanten Alkoholkonsum betreiben. Man kann nicht entscheiden, ob jemand weiter trinkt. Das entscheidet der Betroffene für sich. Als Partner, Angehöriger oder Freund kann man auf diese Entscheidung nur indirekt Einfluss nehmen. Wichtig ist es, erstmal etwas für sich selbst zu tun. Etwas zu finden, das einem Kraft, Stärke und Anerkennung schenkt.“
Angehörige sollte Probleme klar benennen
Und zeitgleich die Kommunikation untereinander zu verändern: „Zu streiten, verletzend zu werden oder Vorwürfe zu machen, hilft nicht. Man sollte auch niemals versuchen, dem anderen eine Diagnose ans Knie zu nageln. Besser ist es, von den eigenen Empfindungen zu sprechen, konkret Dinge ansprechen, die sich verändert haben. Zu sagen ,Ich möchte den Menschen zurückhaben, der du mal warst’ oder ,Ich kann nicht mehr’, wenn das so ist.“ Holzbach rät dazu, sich auf diesem Weg Verbündete zu suchen – „Wer hat außer mir Interesse daran, dass diese Person wieder so wird, wie sie früher mal war – Freunde, Verwandte, Arbeitskollegen?“ – um sich so aus der einseitigen Verkettung zu lösen.
„Wenn ich niemand anderen mehr habe, dann bin ich auf Gedeih und Verderb mit dem Schicksal des Betroffenen verbunden – und das ist das, was mich so fertig macht.“ Als Gruppe hingegen könne man gemeinsam Wünsche äußern, Forderungen stellen: „Und im Notfall auch entsprechende Maßnahmen ergreifen. Auf keinen Fall darf man die negativen Folgen weiter abfedern. Nicht wieder montags den Chef anrufen, nicht wieder alles aufsammeln, wegputzen, wegräumen.“
Loslassen statt Fallenlassen?
Auch die „Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung“ (BZgA) rät auf ihrer Homepage zur Aktion „Alkohol? Kenn dein Limit“ dazu, als Angehöriger das eigene Leben wieder in die Hand zu nehmen: „Was kann ich für mich tun?“ Die positiven Folgen: „Gelingt es, die eigenen Interessen wieder wahrzunehmen, wächst nach und nach ein Stück Unabhängigkeit.
Was bislang undenkbar war, wird nun möglich. Man hört auf zu kontrollieren und unternimmt nichts mehr, um den übermäßigen Alkoholkonsum und dessen Folgen zu verheimlichen. Vielen Angehörigen macht diese Vorstellung große Angst.“ Doch: „Gerade dieses ,Loslassen’ ist oftmals wirkungsvoller als alles Bitten in den Jahren zuvor.“ Also Loslassen statt Fallenlassen?
Es hilft vielen Suchtkranken, wenn sie Grenzen gesetzt bekommen
Christoph Stichelbach, der im Kamillushaus sehr viel mit den Angehörigen von Suchtkranken zu tun hat, wendet prinzipiell ein: „Der jeweilige Rat, den man Angehörigen geben kann, hängt immer vom individuellen Einzelfall und vom Umfeld ab. Aber vielen Suchtkranken hilft es, wenn sie von nahestehenden Menschen klare Grenzen gesetzt bekommen. Dabei kann das sprichwörtliche Zeigen der „roten Karte“ eine aufrüttelnde Wirkung haben.“ Für am effektivsten hält er Selbsthilfegruppen für Angehörige beziehungsweise für Betroffene und Angehörige: „Dort lernen die Angehörigen den Umgang mit den Suchtkranken, erfahren Grundlegendes über Symptomatik und Dynamik der Suchterkrankung und dadurch auch, sich, wenn nötig, vom Suchtkranken abzugrenzen und die eigenen Bedürfnisse wahrzunehmen.“
"Putzen für Bier" in Essen gestartet
Meine Freundin war nicht tot. Sie war fuchsteufelswild. „Wie konntest du nur die Polizei anrufen?“, brüllte sie mich an, „ich hatte mich bloß was hingelegt!“ Daran, dass sie ihren Selbstmord angekündigt hatte, konnte sie sich nicht mehr erinnern. Die Feuerwehr und der Notarzt sind wieder gefahren. Ich fuhr auch. Als sie wieder nüchtern war, habe ich ihr gesagt, dass sie das nie wieder tun soll. Und wenn doch, dass ich wieder die Polizei anrufen würde. Und dass ich nicht mehr ans Telefon gehe, wenn sie betrunken ist, weil es keinen Sinn macht, dann mit ihr zu sprechen. Dass ich aber gerne mit ihr rede und ihr zuhöre, wenn sie wieder klar ist. Dass wir uns dann treffen können, um etwas zusammen zu unternehmen. Oder einfach nur so, auf einen Kaffee. Ihr letzter Rückfall ist jetzt zwei Wochen her. Sie geht jeden Abend zu den Anonymen Alkoholikern, und sie steht auf der Warteliste für eine neue Therapie. Ob sie es diesmal schafft? Ich hoffe es.