Nuttlar. . Ohne Pressluftflasche taucht unser Mitarbeiter Tobias Appelt durch die gefluteten Gänge des stillgelegten Bergwerks in Nuttlar im Sauerland. Dort erkundet er eine versunkene Welt - und wird mit den eigenen körperlichen Grenzen konfrontiert. Ein atemberaubender Selbstversuch.

20 Meter. So tief soll ich tauchen? Das ist doch Wahnsinn. „Du schaffst das“, sagt Werner Giove und klopft mir aufmunternd auf die Schulter. „Ich schaffe das nie und nimmer“, denke ich, nicke aber, halte einen Moment inne, hole tief Luft. Dann tauche ich mit dem Kopf unter die Wasseroberfläche, strample mit den Beinen, rudere mit den Armen. Ich sinke hinab. Tiefer und tiefer. Ich greife mit der Hand an die Nase, puste, es knackt in den Ohren. Die Hälfte der Strecke habe ich geschafft. Der Verstand sagt: „Dreh’ um, Du gehörst hier nicht her, Du musst atmen.“ Und trotzdem schwimme ich weiter. Dann das Ziel: Geschafft! Mit der rechten Hand berühre ich den Grund. Jetzt zurück. Noch einmal 20 Meter. Eine lange Strecke, ich will atmen, schon jetzt bin ich am Limit.

Ich bin eigentlich völlig untrainiert, rauche viel zu viel, keine 30 Sekunden kann ich die Luft anhalten und habe auch keinerlei Erfahrung mit dem Freitauchen, als ich die Einladung für das stillgelegte und geflutete Bergwerk im Örtchen Nuttlar bekomme. Ich telefoniere mit Matthias Richter von der Tauchschule Sorpesee. Der erfahrene Taucher weiß, dass das Wirrwarr aus wassergefüllten Gängen alles andere als anfängergeeignet ist. Er wird etwas hektisch, verweist mich an Werner Giove, der mit ihm das Event organisiert.

Viel zu lesen über „Blackouts“

Auch Giove hat zunächst Zweifel: „Die Schlagzeile ,Journalist beim Freitauchen im Bergwerk ertrunken’ können wir eigentlich nicht gebrauchen“, sagt er. Ein Scherz? Der 34-Jährige hat aber gleich einen Vorschlag parat: „Wir treffen uns vorher in Siegburg. Dort gibt es ein Tauchcenter mit einem 20 Meter tiefen Trainingsbecken. Da mache ich Dich fit fürs Bergwerk.“ Giove ist seit mehr als zehn Jahren als Freitaucher aktiv, mit seiner „Freedive Academy“ bildet er bundesweit in Apnoe-Tauchen aus, also Tauchen ohne Pressluftflasche. Er ist ein Vollprofi.

Zwei Tage später steckt ein Lehrbuch für Apnoe-Taucher im Briefkasten. Meine Frau blättert es durch und sagt: „Du gehst nicht in dieses Bergwerk“. Auch das noch, denke ich. Sie hat die Kapitel über Folgen des Sauerstoffmangels und Tauchunfälle gelesen: „Blackouts“, also der vorübergehende Verlust des Bewusstseins, können vorkommen, wenn man sich übernimmt. „Ich pass’ schon auf“, sage ich. Sie seufzt: „Du machst doch eh was Du willst.“

Drei Millionen Liter warmes Wasser

Also stehe ich wenige Tage später im „Dive4Life“-Tauchcenter in Siegburg. Vor mir: Ein riesiges, rundes Schwimmbecken, 20 Meter tief, gefüllt mit drei Millionen Litern Wasser, temperiert auf angenehme 26 Grad Celsius. Giove drückt mir Neoprenanzug, Maske, Flossen und Schnorchel in die Hand. Und bereits nach dem Anziehen des hautengen Anzugs bin ich außer Puste.

Das Trainingsbecken kenne ich gut. Oft bin ich hier getaucht. Allerdings mit einer Pressluftflasche auf dem Rücken. 2013 habe ich in Siegburg den legendären italienischen Apnoe-Taucher Umberto Pelizzari interviewt. Dieses ewige Auf und Ab – warum sollte man sich das antun, wenn man es doch viel einfacher haben kann? So fragte ich auch Umberto Pelizzari, ob er sich nicht manchmal eine Tauchflasche wünscht. „Absolut nicht“, antwortete er damals. „Ich bleibe lieber kürzere Zeit unter Wasser, werde dafür aber eins mit dem Meer und seinen Bewohnern.“

Schnell große Fortschritte am Anfang

„Fass an das Seil!“, ruft Giove. „Dann ziehst Du Dich daran herunter.“ Wir sind im Wasser, es wird ernst. Ich tauche auf sieben Meter Tiefe. Dann setzt der erste Atemreflex ein. Der Körper schreit nach Sauerstoff. Ignorieren, denke ich. Geht aber nicht. Hektisch paddle ich an die Oberfläche zurück, schnappe nach Luft. Wir wiederholen das, etliche Male. Langsam arbeite ich mich in größere Tiefen vor. Ich entspanne. Zehn Meter, kein Problem. zwölf Meter, klappt. „Das sind gute Fortschritte“, lobt Giove. „Du warst gerade 1 Minute und 50 Sekunden unter Wasser.“ Ich staune. Es fühlte sich an, als wären es gerade einmal 30 Sekunden gewesen. „Am Anfang machen alle Freitaucher schnell große Fortschritte“, sagt Giove. „Jetzt machst Du die 20 Meter. Du schaffst das.“ Dann das Schulterklopfen. Und ich schaffe es. Tatsächlich. Es fühlt sich gut an. Sehr gut. Wahnsinn, denke ich. Damit hätte ich nicht gerechnet. Wird aus mir also doch noch ein Apnoe-Taucher. . .?

Es wird ernst - Nach dem Training geht es endlich ins Bergwerk Nuttlar 

Zwei Tage später ist die anfängliche Euphorie verflogen, geblieben ist Muskelkater. Heute geht es ins Bergwerk. Ein Übersee-Container, der ins schroffe Schiefergestein gesetzt wurde, dient als Eingang. Wer zum Wasser will, muss einen etwa 40 Meter langen Tunnel hinabsteigen. Unter Tage ist es dunkel, feucht und kalt. Gespenstisch. Sieben Grad Celsius hat das Wasser. Mein Neopren-Anzug ist zwar sieben Millimeter dick, hat aber etliche Löcher. Die Kälte kriecht bereits vom Boden durch die Neopren-Socken in den Körper.

1985 endete der Bergbau in Nuttlar. Der Betreiber des Werks war insolvent. Die Kumpel schalteten an ihrem letzten Arbeitstag die Pumpen ab – und die Stollen füllten sich mit Wasser. Jahre später war das zwölf Kilometer lange, unterirdische Wegenetz überflutet. Maschinen und Loren stehen noch immer dort, wo sie einst verlassen wurden. Es ist, als wäre die Zeit stehen geblieben. Speziell ausgebildete Taucher dringen inzwischen weit in die Stollen vor. Doch noch immer haben sie nicht alle Bereiche des einstigen Schieferbergwerks erkundet.

Wir werden uns heute nur im gefluteten Eingangsbereich des Bergwerks bewegen. An den meisten Stellen ist das Auftauchen jederzeit möglich. „Aber Achtung“, heißt es. „Wenn Ihr wie ein Ballon aus dem Wasser schießt, könnt Ihr Euch den Kopf an der Decke stoßen.“ Ein Bereich hat es besonders in sich: der sogenannte Bremsberg, auf dem einst Schieferloren ihren Schwung verlieren sollten. Dieser etwa 25 bis 30 Meter lange Gang ist komplett geflutet. Taucht man dort hinein, muss man anschließend die ganze Strecke wieder zurück. „Und? Machen wir das?“, frage ich. „Ja, das machen wir. Du musst ja nicht ganz bis zum Ende tauchen...“

Unten angekommen beginnt das Kopfkino

Ich trete Wasser. Halte mich so an der Oberfläche. Durch meine beschlagene Maske sehe ich in der Tiefe schemenhaft den Eingang zum Bremsberg. Nach etwa 25 Minuten im eiskalten Wasser ist mein Körper bereits ausgekühlt. Ich zittere. Kontrolliertes Atmen ist nicht möglich. Aber ich will da runter. Also sauge ich so viel Luft wie nur möglich und tauche ab. Was um mich herum im Wasser ist, nehme ich kaum war: an den Wänden alte Rohre und Kabel, Schienen auf dem Boden. Als ich den Tunneleingang erreiche, begreife ich, dass ich nun nicht mehr einfach Auftauchen kann. „Wenn Du da unten angekommen bist, beginnt das Kopfkino“, hatte Giove mich gewarnt. „Bleib ruhig und schwimm einfach weiter.“

Noch ein Flossenschlag, noch einer und noch einer. Ich spüre, dass die Luft knapp wird. Mich blendet ein Licht. Der Strahl aus meiner Lampe? Wo ist der Sicherungstaucher, der hier unten auf mich warten sollte? Die Luftblasen, die er ausatmet, höre ich. Es klingt, als würde jeden Moment der Stollen über mir zusammenstürzen. Wie weit bin ich schon getaucht? Wie lange dauert der Rückweg? Die vielen Eindrücke überwältigen mich. Ich drehe um. Ziehe die Flossen kraftvoll durchs Wasser. Als ich durch die Wasseroberfläche stoße, schnappe ich nach Luft. „Das war genial!“, rufe ich meinen Mittauchern zu. Sie verstehen, welche Bedeutung in diesen drei Worten mitschwingt – Sie wissen, was mit einem geschieht, wenn man der Faszination Apnoe-Tauchen verfallen ist. Man will es wieder und wieder tun. Obwohl das eigentlich Wahnsinn ist.

  • Die Freedive Academyhat ihren Sitz im hessischen Groß-Gerau, bietet aber bundesweit Apnoe-Workshops an. Ausbildung erfolgt auch regelmäßig im „Dive4Life“-Tauchcenter in Siegburg. Infos: www.freedive-academy.de
  • Die Tauchschule Sorpeseebildet in der sauerländischen Sorpetalsperre Unterwassersportler aus. Außerdem sind die Mitarbeiter Ansprechpartner für das Bergwerktauchen in Nuttlar. Infos: www.tauchschule-sorpesee.de