Essen. Gute Eigenschaften wie eine hohe Intelligenz haben Jungen und Mädchen meist von Papa oder Mama geerbt, an schlechten sind andere oder die Umwelt schuld. Doch so einfach und schmeichelhaft für die Familie ist es natürlich nicht. Woher kommt die Begabung der Kinder wirklich?
Wenn Eltern aus dem Staunen, manchmal auch aus dem Entsetzen, über ihre Tochter nicht mehr herauskommen, schütteln sie gerne den Kopf und sagen zu ihr: „Von wem hast du das bloß?“ Doch schreibt das Mädchen in der Schule dreimal hintereinander eine Zwei in Englisch, dann neigt die stolze Mutter flugs zum wohlwollenden Kommentar: „Na, da hat ja wohl wieder mein Sprachtalent auf dich abgefärbt, was?“ Oder der Vater dröhnt: „Ganz wie ich früher!“ Wird die Tochter vom Englischlehrer aber wiederholt wegen ungebührlichen Benehmens vor die Tür geschickt, rücken manche Eltern von ihrem Nachwuchs merklich ab: „Von mir hast du das aber nicht!“ Während der Erfolg bekanntlich viele Väter und Mütter hat, ist der Misserfolg leider meist ein Waisenkind.
Woher die Kinder „etwas“ haben, gehört zu den liebsten Spekulationen auf Familienfeiern. Auch dort gelangt man gerne zu dem Fazit: Gute Eigenschaften haben mit dem genetischen Familienerbe zu tun und werden beständig weitergegeben, wohingegen an schlechten Merkmalen meist äußere Umstände schuld sind: wahlweise Wirtschaftskrisen, unfähige Lehrer oder die falschen Freunde, notfalls auch eine schwierige Geburt. Solche Erklärungen greifen natürlich viel zu kurz.
Scharfsinn von Oma Gisela
Während das, was wir unseren Kindern in Sachen Pünktlichkeit, Verlässlichkeit oder Freundlichkeit alltäglich vorleben, sehr wohl deutlich auf sie abfärben kann, verhält es sich mit der Weitergabe unserer Gene und den Konsequenzen hieraus schon ein wenig komplizierter. Weder vererbt sich Oma Giselas Scharfsinn oder Papa Pauls Fingerfertigkeit beim Werkeln einfach so auf die Enkelin oder den Sohn, noch lässt sich anhand der Erbanlagen überhaupt genau vorhersagen, wie schlau oder begabt ein Kind einmal sein wird – was immer damit jeweils gemeint ist.
Viele Intelligenzforscher unterscheiden zwischen allgemeiner und spezieller Intelligenz. Damit meinen sie zum einen, wie flink und effizient ein Gehirn Informationen verarbeitet, wie schnell also jemand von Begriff ist. Zum anderen spielen sie damit auf spezifisches Wissen oder spezielle Fertigkeiten an, die sich jeder von uns im Lauf seines Lebens aneignet.
Erworbenes Fachwissen oder erlernte Kunstfertigkeit kann einen Mangel an allgemeiner Intelligenz „in beträchtlichem Maße ausgleichen“, doch kann eine flotte Auffassungsgabe den Erwerb von Wissen oder Können sehr erleichtern, wie der Bremer Hirnforscher Gerhard Roth anmerkt. Seiner Ansicht nach ist ein intelligenter Mensch einer, „der schnell sieht, was Sache ist, und dem ebenso schnell einfällt, was jetzt zu tun ist – und dabei meist Erfolg hat“. Dazu muss man erstens fix im Kopf sein und zweitens gut Bescheid wissen.
Allgemeine und spezifische Intelligenz
Gängige Tests messen deshalb auch beides: die allgemeine und die bereichsspezifische Intelligenz, und dies vornehmlich mit Blick auf sprachliche und nichtsprachliche Fähigkeiten. Getestet wird, wie rasch jemand rechnen, deckungsgleiche Figuren erfassen, aus der Reihe fallende Wörter erkennen oder offensichtlich Fehlendes an Bildern ergänzen kann. „Daraus ergeben sich Erkenntnisse über bestimmte individuelle Begabungen, die für die Berufswahl genutzt werden können“, sagt Roth, und das entspreche auch der Alltagserfahrung: „Der eine kann gut reden und schreiben, hat aber Probleme mit der räumlichen Orientierung oder dem Rechnen und so weiter, beim anderen ist es genau umgekehrt. Manchen sind in beidem gut und andere in beidem schlecht!“
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Der vielbemühte Intelligenzquotient (IQ) trifft eine sinnvolle relative Aussage über die Intelligenz eines bestimmten Menschen nur, wenn dieser mit in etwa Gleichaltrigen verglichen wird – es geht dabei laut Roth um eine „altersabhängige Durchschnittsintelligenz“, und diese liegt definitionsgemäß bei dem Wert 100. Um ihn herum sind etwa 70 Prozent aller Menschen mit recht geringen Abweichungen versammelt. Die etwa zwei Prozent Hochbegabten haben einen IQ von 130 oder mehr, doch „oberhalb eines IQ von 150 sind Intelligenzaussagen nicht mehr sinnvoll, weil nicht mehr statistisch verlässlich bestimmbar“.
Man kann vorhersagen, wie schlau jemand wird
Wie intelligent jemand im höheren Alter sein wird, lässt sich ziemlich gut schon bei einem Kind vorhersagen. Fachleute erkennen: Die Intelligenz des Kindes steht in einem recht engen Zusammenhang mit der in späteren Lebensjahrzehnten. Kennt man somit aufgrund geeigneter Tests die Intelligenz eines Vierjährigen, kann man die Intelligenz desselben Menschen „im Alter von vierzig Jahren mit guter Annäherung vorhersagen“, urteilt Roth.
Intelligenz ist mithin kein völlig festgelegtes, aber doch ein recht stabiles Persönlichkeitsmerkmal. Und so ist es sehr unwahrscheinlich, dass ein aufgewecktes Kind sich einmal zu einem tumben Erwachsenen mausern wird, zumindest nicht, solange der junge Mensch keinen Unfall erleidet, bei dem das Hirn geschädigt wird, oder an einem Hirnleiden erkrankt, das lebenslange Spuren hinterlässt.
Werden Kinder bereits intelligent geboren?
Die spannendste Frage ist, ob man quasi bereits intelligent geboren wird. Laut Gerhard Roth ist Intelligenz „hochgradig, wenngleich nicht vollkommen angeboren“; Umweltfaktoren und Erfahrungen des älter werdenden Kindes spielen also durchaus eine Rolle. Der erbliche Teil der Pfiffigkeit sei jedenfalls „beträchtlich“, urteilt auch der angesehene Intelligenz-Experte Aljoscha Neubauer von der Universität Graz. Zwillings- und Adoptionsstudien zufolge betrage ihr genetischer Anteil in frühen Kindesjahren 30 - 40 Prozent und steige auf bis zu 70 Prozent im höheren Erwachsenenalter. Denn offenbar kommt der erbliche Teil mit der Zeit immer stärker zum Tragen.
Gene und Umwelteinflüsse wirken zusammen
Gene und Umwelteinflüsse wirken nämlich keineswegs unabhängig voneinander: Wer genetisch begünstigt ist und von seinen häufig ebenfalls intelligenten Eltern obendrein gut gefördert wird, sucht sich mit großer Wahrscheinlichkeit weitere nützliche Anreize, zum Beispiel ebenfalls überdurchschnittlich pfiffige Freunde und herausfordernde Tätigkeitsfelder – und beides nährt die Intelligenz weiter. Auf diese Weise werden genetisch bedingte Unterschiede im Laufe des Lebens mehr und mehr betont, sofern wir uns Erfahrungen aussetzen, die unsere Anlagen zur Reife kommen lassen.
Denn auch Folgendes gilt: Obwohl unsere Erbanlagen wichtige Stellgrößen sind, ist ihre Macht begrenzt. Eher lassen sie sich als natürliches Angebot auffassen, das einen Entwicklungsweg lediglich nahe legt. Und so kann unser Intelligenz-Proviant auf der Reise durchs Leben sowohl zur Blüte gebracht werden als auch verkümmern. Aus demselben Grund lässt sich eine von Geburt an weniger stark veranlagte Intelligenz durch günstige Einflüsse von außen noch sehr gut fördern.
Der verunglimpfende Spruch „Dumm geboren und nix dazugelernt“ ist also weder sachlich richtig noch gibt er eine Entwicklungsrichtung vor: Erstens kommt kein normal entwickeltes Neugeborenes „dumm“ zur Welt, noch verurteilt eine erblich bedingte, unterdurchschnittliche Intelligenz zu einem geistig minderbemittelten, dumpfen Leben.
Gewisse Anlagen müssen Jungen und Mädchen mitbringen
Um der Ehrlichkeit willen ist jedoch hinzuzufügen, dass sie auch keine günstige Startbedingung ist. Denn nach derzeitigem Wissenstand kann jemand in Sachen Intelligenzquotient „selbst unter optimalen Bedingungen keine Spitzenwerte erreichen“, der „keine entsprechenden Anlagen mitbringt“, urteilen Neubauer und die Züricher Psychologin Elsbeth Stern in ihrem gemeinsamen Buch „Intelligenz. Große Unterschiede und ihre Folgen“.
Wie groß ist der Einfluss der Eltern auf die Intelligenz der Kinder?
Zwei Erkenntnisse daraus mögen Eltern – je nach eigenem Temperament – beruhigen oder auch verstören: Erstens bekommen zwei sehr schlaue Eltern nicht zwangsläufig ein übermäßig intelligentes Kind. Umgekehrt könnten zwei weniger schlaue Eltern durchaus ein sehr gewitztes in die Welt setzen. Statistisch gesehen gibt es nämlich eine Tendenz zurück zur Mitte, weg von extrem guten oder schlechten Werten. Intelligenzbestien lassen sich also nicht durch gezielte Partnerwahl planen.
Der Einfluss der Eltern ist begrenzt
Zweitens können sich Eltern insofern entspannen, als ihr Einfluss auf die Intelligenz des bereits geborenen Kindes mit der Zeit nachlässt. Während er in den ersten zehn Jahren durchaus messbar ist, verliert er sich später mehr und mehr zugunsten anderer Umweltfaktoren. Fix im Kopf werden die Kinder beispielsweise durch den Kindergarten und noch eher durch die Schule, sofern beide Einrichtungen die Kinder tatsächlich gut fördern.
Dennoch sind es Neubauer zufolge die Eltern, die den ersten Schritt machen und „die Tür aufstoßen“ müssen, damit andere Einflüsse optimal wirken können: Es reicht völlig, sich den Kleinen immer wieder zuzuwenden und sinnvolle, altersgemäße Anreize zu setzen. Gemeint sind damit weder ausgewählte Mozart-Stücke für Zweijährige noch ein Physik-Experimentierkasten fürs Kleinkind, sondern zum Beispiel der Holzlöffel zum Lärmen auf alten Kochtöpfen, der Teddy zum Liebhaben und der äußerst wichtige Kontakt zu anderen Kindern.
Der indische Lernpädagoge und Chemiker Salman Ansari spricht sich in seinem Buch „Rettet die Neugier!“ denn auch klar „gegen die Akademisierung der Kindheit“ aus. Kleine Kinder sollten kein Wissen anhäufen, sondern ihrer Kreativität entfalten. Ihnen über physikalische oder chemische Experimente Fragen zu beantworten, die sie gar nicht gestellt hätten, sei Unsinn und behindere sie bei ihrer geistigen Reifung. Der Rest ist Liebe, Geduld und wissende Gelassenheit. Denn zum Glück können Eltern mit Herzenswärme vieles richtig, aber eher wenig wirklich falsch machen.
Das Interesse der Kinder fördern
Auf fruchtbaren Boden aber fällt diese Förderung vor allem da, wo das Kind spürbares Interesse entwickelt. Hier kann schon früh Wissen vermittelt werden, das im Verbund mit angeborener Intelligenz einen wachen Verstand heranbildet. Beides hängt insofern miteinander zusammen, als Kinder sich Fakten umso leichter aneignen können, je intelligenter sie bereits sind. Wissen falle stets in ein „Spinnennetz von Vorwissen“, veranschaulicht Aljoscha Neubauer das Wirkprinzip. Und je dichter dieses gewoben sei, desto leichter bleibe das Neue schließlich hängen.
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Umso wichtiger erscheint es, Kindern schon in jungen Jahren viel Anregendes zu erzählen und sie auf möglicherweise Interessantes hinzuweisen – seien es Bagger und Kräne an Baustellen oder Tiere im Zoo und Pflanzen am Wegesrand. Denn auch wenn es stimmt, dass man heute mit Hilfe des Internets fast alles viel rascher herausfinden kann als früher in Büchern: Eine gute Wissensbasis erleichtert die Suche ungemein. Und nur wer über vielfältiges Vorwissen verfügt, kann die meisten jener Fragen überhaupt stellen, die uns am Ende schlauer machen.