Essen. . Wenn viele losrennen, fällt es uns schwer, als Einzige stehen zu bleiben. Fremde Bewegung steckt an. Der Herdentrieb wird etwa an Fußgängerampeln wirksam, wenn jemand bei Rot losläuft. Dieses biologische Erbe sitzt tief und ist durchaus sinnvoll. Doch die Menge kann irren - wie an der Ampel.

Angenommen, Sie schlendern über eine Verbrauchermesse. Plötzlich sehen Sie zwei Verkaufsstände für Messer. Vor dem einen stehen zwei Menschen und lassen sich vom Verkäufer etwas zeigen; vor dem anderen unmittelbar daneben aber drückt sich eine vielköpfige Traube von Messebesuchern, und jeder in den hinteren Reihen versucht auf Zehenspitzen, einen Blick auf das zu erhaschen, was ganz vorne am Stand vor sich geht. Und nun die Frage an Sie: Wohin würden Sie sich wenden? Schön, Sie wollen also nicht im Gedränge stehen und entscheiden sich deshalb für den fast menschenleeren Stand. Dann seien Sie wenigstens jetzt ehrlich: Wo vermuten Sie die besseren Messer? Eben!

Was alle machen, kann so falsch nicht sein - und wenn doch, sitzen alle im Boot

Im Laufe ihrer Evolution hat die Spezies Mensch nicht nur Körpermerkmale, sondern auch Verhaltensweisen herausgebildet, die sich bis heute als nützlich erweisen. Oft genug haben diese Handlungs- und Reaktionsweisen sogar unser Überleben als biologische Art gefördert oder schlicht ermöglicht. Eines dieser Überlebensprogramme bringt der Göttinger Evolutionspsychologe Benjamin Lange so auf den Punkt: „Was die Masse macht, kann so falsch nicht sein, und wenn die Masse irrt, dann sitzen wir wenigstens alle im selben Boot und können das Problem gemeinsam lösen.“

Hier hat der Herdentrieb seine evolutionsbiologische Wurzel: So dumm es für ein Gnu wäre, beim Angriff eines Löwenrudels alleine nach Westen zu rennen, wenn die Herde nach Osten losstürmt, so riskant sind einsame Entscheidungen auch für uns Menschen. Börsenanalysten zum Beispiel richten ihre Urteile über die Zukunft von Unternehmen häufig an denen ihrer Kollegen aus. Niemand liegt gerne als einziger falsch mit seiner Prognose und steht dann vermeintlich „wie ein Depp“ da. Es gehört Mut dazu, eine Außenseiter-Meinung zu vertreten, denn hoch ist das Risiko, sich zu irren. Und lieber irrt man sich gemeinsam mit anderen.

Mit den Wölfen heulen. Der Herdentrieb in uns aus der Sicht unseres Illustrators Jamiri.
Mit den Wölfen heulen. Der Herdentrieb in uns aus der Sicht unseres Illustrators Jamiri. © Jamiri

Das aktuelle Beispiel des insolventen Windanlagenbetreibers Prokon aus Itzehoe veranschaulicht hingegen, wie verführerisch es sein kann, sich mit einer Heerschar anderer Anleger auf einem Boot einzuschiffen, das vermeintlich sicher geraden Kurs auf ein Rendite-Paradies nimmt. Acht Prozent in Aussicht gestellter Ertrag auf windige Genussscheine, da musste man doch einfach zugreifen. Denn wer will schon zu den langweiligen Zauderern gehören, die sich mit nur einem Prozent Zins aufs Tagesgeld zufrieden geben! Auch eine vermeintlich bauernschlaue Minderheit kann uns also mitreißen. Die Masse potenzieller Anleger hat bei Prokon zum Glück nicht zugegriffen.

In einer Tierherde sind die Artgenossen lebende Schutzschilde

Nun ist es allerdings ein gewaltiger Unterschied, ob man sich tagelang intensiv mit einem Investment befassen kann oder bei einem Brand innerhalb von Sekunden entscheiden muss, ob es ratsam wäre, einem Pulk fliehender Menschen zu folgen. Wer selber nicht weiß, wo der beste Fluchtweg liegen könnte, der tut gut daran, dorthin zu laufen, wohin alle rennen. Denn vielleicht weiß ja der Leithammel wirklich etwas, das einem selber entgangen ist. Bei Gefahr hat man in der Regel weder Zeit, vernünftig nachzudenken, noch ist man emotional dazu imstande, und eine zweite Chance zum Handeln ergibt sich in brenzligen Notlagen eher selten. „Hinzu kommt, dass uns emotionale Erregung und Unsicherheit empfänglich machen für Suggestion durch andere“, sagt der Grazer Wirtschaftspsychologe Thomas Brudermann, Autor eines Buches über Massenpsychologie. „Wenn wir uns in einer Situation wiederfinden, für die wir keine Erfahrungswerte haben, dann orientieren wir uns an dem, was andere tun.“ Aus evolutionärer Sicht ergebe das „absolut Sinn“, und dies aus zweierlei Gründen.

Wenn eine Zebra-Herde zusammen ist, wird es für eine Raubkatze schwierig, ein einzelnes Tier zu packen. Die Streifen der Zebras flirren vor den Auten des Jägers.
Wenn eine Zebra-Herde zusammen ist, wird es für eine Raubkatze schwierig, ein einzelnes Tier zu packen. Die Streifen der Zebras flirren vor den Auten des Jägers. © imago/Hohlfeld

Zunächst einmal spart es Energie, wenn wir nicht lange nachdenken, sondern die Beine unter den Arm nehmen. Kein anderes Organ in einem ruhenden Körper konsumiert so viel Energie wie unser Gehirn. Auf das Oberstübchen entfällt ein knappes Viertel unseres gesamten Energieverbrauchs, etwa so viel wie auf die Muskulatur. Noch eindrücklicher fällt die Energiebilanz aus, wenn man den Zucker- und Stärke-Anteil des Energieverbrauchs berücksichtigt: Obwohl das Gehirn gerade einmal rund zwei Prozent des Körpergewichts ausmacht, verbraucht es gut die Hälfte der Glukose, die wir täglich futtern – bei großem Stress sogar fast 90 Prozent. Wenn wir dem Affen in uns Zucker geben, dann also vor allem für den Großrechner. Die Konsequenz aus Sicht von Brudermann: „Das Gehirn muss mit seinen Ressourcen sparsam umgehen, und Nachdenken ist energieintensiv und langsam.“ Affekte hingegen, also Gemütsregungen, brauchen nicht nur weniger Energie; sie werden vom Hirn obendrein fixer hervorgebracht. „Wir folgen daher in gefährlichen Situationen oft unserem ersten, affektiven Impuls, tun also das, was andere tun, oder laufen auf demselben Weg wieder zurück, den wir auch gekommen sind.“

Die Massenflucht verwirrt den Feind

Wichtiger für unser Überleben als biologische Art ist jedoch ein anderer Vorteil des Massenaufruhrs gewesen. Man kennt den Effekt von Wildtieren aus dem Tierfilm, die von Fressfeinden aufgescheucht und dann gejagt werden. „Ein von der Herde losgelöstes Individuum ist besonders gefährdet“, sagt der Evolutionspsychologe Harald Euler. Eine lospreschende Herde jedoch bietet jedem mitlaufenden Tier Schutz. Erstens dienen die Artgenossen ringsum zumindest den Flüchtenden im Inneren des Pulks als lebende Schutzschilde gegen Attacken; zweitens fällt es Raubkatzen schwer, im Gewusel von zweihundert Zebras oder Gnus ein bestimmtes Tier ins Auge zu fassen – was bei Zebras vom Flirren ihres Streifemusters noch befördert wird. Und drittens bietet der große Verbund die Chance, dass eine Gruppe von Tieren gemeinsam zum Gegenangriff übergeht oder einem angegriffenen Artgenossen zu Hilfe eilt, was nicht nur in den Savannen Afrikas immer wieder einmal geschieht.

An einer roten Ampel lassen wir uns mitziehen 

Buchstäblich mitreißend wirken auf uns Menschen auch ungeduldige Fußgänger, die an der Ampel bei Rot loslaufen – vor allem dann, wenn wir für ein paar Momente geistesabwesend gewesen sind und das Ampellicht aus dem Blick verloren haben: Marschiert der erste los, folgen leicht ein paar andere, als würden sie mitgezogen. Dasselbe geschieht, wenn die Vorderleute im Wandertrupp plötzlich den Weg abkürzen und eine Wiese queren, die sonst umständlich zu umgehen wäre: Das Gefolge tut es ihnen gleich. Auch hier kommt der Herdentrieb zum Tragen, befeuert vom System unserer Spiegelneuronen im Hirn, das auch mitwirkt, wenn wir ein Lächeln erwidern oder besorgt dreinschauen, sofern auch andere Menschen das tun. „Wenn wir wahrnehmen, dass andere loslaufen, löst das in uns einen automatischen Impuls aus, ebenfalls loszugehen“, erklärt der Psychologe Thomas Brudermann den Mechanismus.

Die Masse kann nicht irren: Wie häufig informieren Sie sich bei Bewertungsportalen im Internet?
Die Masse kann nicht irren: Wie häufig informieren Sie sich bei Bewertungsportalen im Internet? © WNM

Schön zu beobachten ist dieses fremdgesteuerte Verhalten auch bei Wandergruppen, die vom Waldparkplatz aus zu ihrer Tour starten wollen oder gerade bei einer Rast zusammen ihren Proviant verzehren. Eben haben noch alle munter plaudernd oder kauend beisammen gestanden. „Wenn dann aber einer entschlossen losgeht, folgt die Gruppe sofort“, hat der Natursoziologe und Wanderforscher Rainer Brämer oftmals beobachten können. Dabei müsse der Vorangehende den Weg eigentlich gar nicht kennen; es reicht, dass er so tut.

Wir laufen nicht nur gerne zusammen - sondern blieben auch gerne in der Gruppe

Wir laufen oder stürmen übrigens nicht nur gerne mit den anderen los, sondern bleiben dann auch gerne hübsch mit ihnen zusammen. Deshalb beginnen viele Menschen sich zu ängstigen, wenn sie beim Wandern den Anschluss an ihre Gruppe verlieren – zum Beispiel, wenn sie wegen dringender Geschäfte kurz in die Büsche mussten. In der Zwischenzeit ist der Trupp der Wandergenossen unerwartet irgendwo abgebogen und außer Sicht.

Schon pocht vernehmlich das Herz, und die Muskeln im ganzen Körper spannen sich an: Wo sind die anderen nur hin? Und was soll man jetzt tun? Auch diese Angst ist ein altes Erbe. „Wir Menschen haben ein extrem sozial denkendes Hirn“, sagt Benjamin Lange. „Wir wollen dazugehören, nicht ausgeschlossen sein, denn nicht zu einer Gruppe von Menschen zu gehören, hat in der Steinzeit unseren sicheren Tod bedeutet.“ Erfahrene Wanderführer können deshalb allerlei Skurriles über das Verhalten von Gruppen in Wanderstiefeln berichten. Mit größer Wahrscheinlichkeit mosern die Zurückfallenden irgendwann über das „bescheuerte“ Gehtempo der Vorderleute. „Was müsst ihr denn so hetzen?“, rufen sie dann. Viel seltener erklingt von vorne das Genörgel, doch bitte hinten nicht derart zu trödeln. „Offensichtlich steht die Nachhut unter einem besonderen Druck, den Anschluss nicht zu verlieren“, vermutet Rainer Brämer. Der Bibelspruch, wonach die Ersten irgendwann die Letzten sein werden, ist ein schwacher Trost, wenn die Urangst wirkt, am Ende des Pulks achtlos abgehängt zu werden.

Keiner fühlt sich am Ende einer Herde wohl

Diese Sorge kann sich bei besonders empfindlichen, weil ängstlichen Menschen sogar in körperlichen Reaktionen entladen. So gebe es „psychosomatisch labile Personen, die am Ende einer Wandergruppe infolge verstärkter Asthma-Anfälle oder Kreislaufprobleme kaum noch mithalten können, während sie an der Gruppenspitze keinerlei Gesundheits- oder Tempoprobleme haben“, konnte Brämer beobachten. Ein Wanderführer, der das merkt, kann die Leidenden einfach ins vordere Mittelfeld holen, wo sie ja letztlich keineswegs schneller gehen müssen – nur hinterherzukeuchen brauchen sie dort nicht mehr. Und endlich gehören sie wieder zur Herde.

Tödlicher Herdentrieb im Film 

In einem spannenden US-Katastrophenfilm aus dem Jahr 1972 wird der alte Passagierdampfer Poseidon ausgerechnet bei seiner letzten planmäßigen Reise von New York nach Athen von einer Monsterwelle auf dem Mittelmeer (im Film die Folge eines Seebebens bei Kreta) umgeworfen und treibt kieloben im Wasser, während er allmählich sinkt.

Aus wissenschaftlicher Sicht ist das zwar Humbug, weil Tsunamis mitten auf dem Meer selten mehr als einen Meter hoch werden und nicht einmal ein Spielzeug-Boot umschmeißen könnten, aber darum geht es hier nicht. Viel interessanter ist die Panik unter den verängstigten Passagieren, deren Welt buchstäblich kopf steht.

Fliehen oder auf Suchtrupps warten?

Auch im Ballsaal will die Festgesellschaft fliehen, doch wohin? Eine Zeit lang versucht der Filmheld – ein von Gene Hackman gespielter Priester – die zerzausten Festgäste für die abstrus erscheinende Idee zu gewinnen, den mühseligen Weg hinauf anzutreten, in dieser verkehrten Welt folglich zum Schiffsrumpf, der noch aus dem Wasser ragt. Doch der uniformierte und deshalb vertrauenswürdig aussehende Zahlmeister des Dampfers hält davon gar nichts und warnt die Passagiere, um Gottes willen nicht dem Gottesmann in die Hölle zu folgen, sondern an Ort und Stelle auf die bestimmt schon herbeieilenden Suchtrupps zu warten.

Also heftet sich nur ein kleines Häuflein ausreichend besonnener Menschen dem Priester an die Fersen und klettert mit ihm über einen großen Weihnachtsbaum aus dem Ballsaal. Tatsächlich läuft dieser kurz darauf voll Wasser, mitsamt dem Zahlmeister und seinen Gläubigen. Wenig später trifft der glückliche Haufen auf einen größeren Passagiertrupp, der auf das Kommando des angesehenen Schiffsarztes hört und auf dem – leider tödlichen – Holzweg in Richtung Bug ist.

Sechs Gefolgsleute werden gerettet

Denn wie einer im Gefolge des Geistlichen zufällig vor dem Unglück erfahren hat, ist nur im Wellentunnel am Schiffsheck der Stahl des Kiels dünn genug für die Schneidbrenner der Retter. Diesen gelingt es im Film am Ende tatsächlich, sechs der neun Gefolgsleute des inzwischen umgekommenen Priesters zu befreien – und nur sie.