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Der Chor der Kritiker am Internet wird lauter. Jüngstes Beispiel: Jaron Lanier. Der einstige Pionier der virtuellen Welt warnt vor „digitalem Maoismus“. Damit liegt er aber genauso schief, wie die Evangelisten, die im Web mehr sehen wollen als eine Informations-Technologie.
Jaron Lanier ist Informatiker, Hochschuldozent und Philosoph - und er gehörte zu den hervorragenden Pionieren im Internet. Er schuf beispielsweise den Begriff der virtuellen Realität – inzwischen allerdings ist er einer der schärfsten Kritiker dessen, was wir Web 2.0 nennen. Vor allem an zwei Punkten macht er in seinem neuen Buch („You are not a gadget“) diese Kritik fest: an der Kostenlos-Ideologie und an der Abwertung des Individuellen, die das Netz durch seine Anonymität der Beteiligten einerseits und seinen Hang zur Belanglosigkeit andererseits fördere.
Die aktive Teilnahme vieler im Netz, so warnt er, führt nicht unbedingt zu Wissensgewinn oder zu gesellschaftlichem Fortschritt. Für Lanier ist das theoretische Konstrukt der sogenannten „Schwarm-Intelligenz“ gefährlich, weil es den Glauben erweckt, dass es nur die Summe Vieler benötige, um Wissen zu produzieren. Das aber führe, so Lanier, zu einer Art „digitalem Maoismus’“ – weil die Theorie der Schwarm-Intelligenz das Kollektiv über das Individuum setze. Der Automatismus Masse = Erkenntnisgewinn funktioniere aber nicht. Letztlich sei es das Nachdenken des Individuums, das den Fortschritt entscheidet – und nicht das digitale Geklingel einer anonymen Masse.
Zwischen Dämonisierung und Überhöhung
Lanier trifft mit seiner harschen Kritik an den Auswüchsen des Netzes auch deshalb auf viel Widerhall, weil die Kostenlos-Ideologie führender Internet-Evangelisten zu einer Entwertung von Geistesarbeit im Internet geführt hat und gleichzeitig noch nie soviel Datenschrott produziert wurde, wie heute. Wertvolles Wissen ist zwar nur zwei Klicks entfernt – das Banale, Dumme, Triviale, Boshafte liegt im Zweifelsfall allerdings noch näher. Das Unbehagen über Methoden der anonymen Lynchjustiz in sozialen Netzwerken, über Denunziation und Beleidigungen in Diskussionsforen, über Plattformen, in denen die wüstesten Verschwörungstheorien unwidersprochen stehen bleiben, wächst.
Der einstige Internet-Pionier hat also einen Nerv getroffen – und wie so häufig, wenn die herrschenden Theoreme der einschlägigen Netzgemeinde in Frage gestellt werden, geht ein Wutschnauben durch das www. Denn in den Debatten um die Entgleisungen, die es im Netz ohne Zweifel gibt, geht es immer auch um Glaubensfragen. Der schrille Ton, der bei solchen Diskussionen angeschlagen wird, ist Teil des Problems. Die Protagonisten neigen dazu, die Bedeutung der Technologie zu überhöhen – oder zu dämonisieren. Beides wird dem Thema nicht gerecht.
Das Netz ist nützlich - und sonst nichts
Festzuhalten ist: Das Internet und die Möglichkeiten, die es bietet, sind in erster Linie nützlich – um Informationen zu erhalten, um schneller als jemals zuvor kommunizieren zu können. Wie das der einzelne nutzt – ob er Pornos herunterlädt oder für eine Forschungsarbeit recherchiert, ob er via Facebook Kontakt zu alten Freunden hält oder sich in Studi-VZ vollständig entblößt – das ist eine Frage der individuellen Nutzung. Das Internet macht keine besseren oder schlechteren Menschen – die Menschen nutzen es nur auf die eine oder andere Art. Insofern hat Lanier Recht, wenn er die Idee der Schwarm-Intelligenz in Frage stellt. Denn es kommt entscheidend darauf an, wer sich im Netz bewegt. Brutal formuliert: Wenn sich 1000 Vollidioten zusammentun, erwächst daraus kein weiser Gedanke, auch nicht, wenn sie vernetzt sind. Entscheidend bleibt also weiterhin das Individuum.
Mit seiner Theorie des „digitalen Maoismus“ allerdings verfällt Lanier dem Reflex der Dämonisierung: Seit es in den griechischen Stadtstaaten die ersten Demokratisierungstendenzen gab, gibt es auch die Diskussion über die geistige Verflachung und Gleichmacherei, die damit einhergehen könnte. Sehr schön beschrieb das der französische Politiker, Historiker und Philosoph Alexis de Tocqueville in seinen Betrachtungen über den jungen amerikanischen Staat: „Die demokratischen Republiken legen den Höflingsgeist der großen Menge nahe und lassen ihn zugleich in alle Klassen eindringen. ... Das gilt besonders für die demokratischen Staaten, ... in denen die Mehrheit so unbeschränkt und unwiderstehlich herrscht, daß man gewissermaßen auf seine Bürgerrechte, ja sozusagen auf seine Menschenqualität verzichten muß, will man sich dort von dem Weg entfernen, den die Mehrheit vorgezeichnet hat.“
Demokratie und Trash
Der warnende Unkenruf passt zu Laniers Theorie des digitalen Maoismus. Hier wie da wird die Frage gestellt: Wie verändert sich die Gesellschaft durch Demokratisierung? Was passiert mit Werten? Das Web 2.0 hat die veröffentlichte Meinung demokratisiert. Und wie wir inzwischen wissen, gibt es die von Tocqueville beschriebene Nivellierung der Geisteswelt in demokratischen Gebilden tatsächlich – auch den Trend zum Banalen, zum Trivialen, zum Trash. Im Internet machen wir ähnliche Erfahrungen, wie im demokratischen real Life: Ich muss es hinnehmen, das vieles, das ich als belanglos, langweilig bis abstrus empfinde, den Weg in die Öffentlichkeit findet – allerdings eröffnet diese Freiheit mir auch die Möglichkeit, meine eigene Sicht der Dinge einem großen Publikum kundzutun. Wenn ich überzeugend bin, gewinne ich Zustimmung. Es war aber stets und ist weiterhin anstrengend, die Mehrheit zu überzeugen. Genauso anstrengend war es stets gegen den Strom des Mittelmaßes zu schwimmen – trotzdem kann man es.
Der Trend zum digitalen Mainstream, zum Dauer-Online-Dasein, zum „digitalen Maoismus“ ist ja kein Zwang. Er hindert niemanden daran, sich innerlich davon zu entfernen. Oder auf die Argumente Laniers umgemünzt: Mag alle Welt sich in Facebook, Studi-VZ oder Xing präsentieren – man kann es auch lassen, man kann E-Mails ignorieren, man kann seine Fotos in ein Album kleben, man muss seiner Umwelt nicht twittern, was es zum Frühstück gab, man kann sich seine Meinung auch abseits politischer Debatten-Foren bilden. Es gibt keinen „digitalen Maoismus“, wenn ich ihn nicht zulasse. Das Netz bietet Millionen Möglichkeiten – die man nutzt oder nicht. Es bleibt den Vorlieben, der Intelligenz oder der Ignoranz des Einzelnen überlassen, was und wie er sein digitales Leben gestaltet, einschließlich der Absage an ein solches. Individuum bleibt Individuum – auch in der digitalen Welt. Da ist kein Zwang.. Genausowenig, wie es eine Welt im Netz gibt und eine draußen – wie es die Internet-Evangelisten so gerne predigen, um zu rechtfertigen, warum es im Internet andere Regeln geben soll als in der übrigen Welt. Das Netz ist kein Raum, kein Wert an sich, sondern ein technisches Hilfsmittel für all jene, die sich darin bewegen und mehr nicht. Wer mehr darin sehen will, der leidet unter Visionen – die, wie wir seit Altkanzler Helmut Schmidt wissen, einen dringenden Arztbesuch notwendig machen.
Kostenlos - ein Auslaufmodell
Sehr realistisch allerdings ist Laniers Kritik an der Kostenlos-Ideologie – und darin ist er sich mit vielen anderen Teilnehmern dieser Debatte einig. Das heillos romantisch verklärte Bild der freien Daten-Piraten nutzt letztlich nur jenen Konzernen, die an der kostenlosen Weitergabe von Informationen verdienen. An dieser Stelle allerdings hat Lanier kaum Auswege zu bieten. Sein Vorschlag, das Netz quasi gesundzuschrumpfen ist einerseits elitär, andererseits gleicht das dem Versuch, einen Geist in die Flasche zurückzustopfen – zu märchenhaft. Viel wahrscheinlicher ist, dass sich in den kommenden Jahren Bezahlmodelle entwickeln – weil es mittlerweile sehr vielen auf den Geist geht, dass ihre Arbeit im Netz entwertet sein soll. Das betrifft so viele Menschen, dass sie mittlerweile eine kritische Masse für Veränderungen bilden. Und die Masse setzt sich im Netz ja immer durch – sagt Jaron Lanier.