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Was geschieht mit einem Menschen, der in eine aussichtslose Lage gerät?
Bei allem Entsetzen über das schreckliche Geschehen auf dem Gelände des alten Duisburger Güterbahnhofs muss man sich vergegenwärtigen: Immer und überall, wo Menschenmassen zusammentreffen, ist die Gefahr panischer Kollektivreaktionen mit unübersehbaren Folgen gegeben. „Der Verstand ist in solchen Fällen ausgeschaltet“, so der Bochumer Psychologe Hagen Seibt über Panikreaktionen, „und der Steinzeitmensch bricht wieder durch.“
Was geschieht mit einem Menschen, der in eine seiner Meinung nach aussichtslose Lage gerät? Angstschweiß bricht aus, der Puls geht wie wild, das Atmen fällt schwerer. Noch bevor Denkprozesse richtig einsetzen, treten Reflexe in Kraft, die in solchen, sich zuspitzenden Situationen nur ein Ziel haben: Weg aus der bedrohlichen Situation. Dabei fliehen die Menschen oft in die Richtung, die auch die Menschen um ihn herum einschlagen – da setzt der archaische Herdentrieb ein. Und zum Auslöser einer Panik kann schon ein jäher Alarmruf wie „Feuer“ werden – ob es tatsächlich brennt oder nicht.
Weh denen, die bei ihrem verzweifelten Fluchtversuch stürzen. Wer nicht rasch genug wieder hoch kommt, wird im schlimmsten Fall von allen Nachdrängenden überrannt. Mit Rücksichtslosigkeit habe dieses Verhalten jedoch nichts zu tun, sagen Experten. Wer zu helfen versucht, gerät nun einmal selbst schnell in Gefahr zu stürzen mit entsprechenden Folgen.
Bedrohliche Enge
In Duisburg waren einige Faktoren gegeben, die zum Auslösen von Panik bedeutungsvoll sind. Seibt nennt gegenüber unserer Zeitung „räumliche Enge, kein Ausweg in Sicht, der Schalldruck der lautstarken, hämmernden Ravermusik“ – keine Lage, um ruhig Blut zu bewahren.
Dass die Massenpanik bei der Loveparade von den Ordnern hätte verhindert werden können, ist auch für den Verhaltensbiologen Jens Krause von der Humboldt-Universität Berlin fraglich. „Sicherheitskräfte sind in so einem Fall auch machtlos, ein einzelner kann da nicht eingreifen“, sagt er. Wie Seibt nennt auch er die hohe Dichte an Menschen auf engem Raum einen potenziellen Auslöser für eine Massenpanik. „Bei zu hoher Dichte verliert der einzelne Mensch die Kontrolle, dann wird es den meisten unheimlich“, sagt er. Das sei etwa dann der Fall, wenn sich mehr als sechs Menschen auf nur einem Quadratmeter Fläche aufhielten. In Extremsituationen sei schon beobachtet worden, dass sich etwa zehn Personen auf so kleiner Fläche drängten. „Das war etwa bei der Panik in Mekka 2006 der Fall.“ Dort starben während der islamischen Wallfahrt Hadsch mindestens 345 Menschen.
Aus Videoaufzeichnungen und Computersimulationen wisse man heute sehr genau, wie solche Menschenströme aussehen. Bei zu hoher Dichte entstünden regelrechte Druckwellen, in denen die Menschen hin und her geschleudert würden. Wenn er in so einer Druckwelle steckt, könne der Einzelne nichts mehr dagegen tun.
Falsches Gelände
Versuche der Forscher hätten allerdings gezeigt, dass sich Menschenmassen durchaus steuern ließen. Dazu sei es wichtig, Ordnungskräfte nicht nur am Rand des Geschehens, sondern auch mitten unter den Feiernden einzusetzen. „Es reichen etwa fünf Prozent an Menschen, die eine Richtung vorgeben“, erklärt Krause seine Versuchsergebnisse. Die Masse würde diesen dann folgen und könnte so schneller evakuiert werden.
Die Wahl des Festgeländes in Duisburg sieht Krause kritisch: „Der Tunnel ist ein Flaschenhals, da komprimiert sich die Menge“. Engstellen wie diese seien immer gefährlich und müssten kontrolliert werden, damit die Dichte der Menschen dort nicht über den kritischen Punkt steige. Krause empfiehlt, derartige Veranstaltungen eher auf offenem Feld abzuhalten, damit die Menschen Fluchtmöglichkeiten haben. „Das war etwa in Berlin im Tiergarten der Fall“, sagte er.
Durchsagen beruhigen
Je bedrohlicher die Situation, desto kühler und überlegter müssten die Ordnungskräfte handeln, verlangt der Bochumer Psychologe Hagen Seibt. „Beruhigende Durchsagen“ könnten helfen, die Lage zu entspannen. Wichtig sei es, die Menschen mit Informationen zu versorgen, damit sie wieder Orientierung fänden und das Gefühl von Ohnmacht und Hilflosigkeit gebannt werde, so Seibt.
Dass im Übrigen jene archaischen Reflexe, die in Paniksituationen viel Unheil anrichten, auch ihr Gutes haben – auch darauf weist Seibt hin. Wenn beispielsweise plötzlich ein Reh vor dem Auto auf die Straße springt, reagiere ein Fahrer reflexhaft ausweichend noch bevor der Verstand zu arbeiten beginne.