Littleton. . Bis heute hat der Amoklauf an der Columbine-Highschool in Littleton vor knapp 15 Jahren die Überlebenden traumatisiert und die USA verändert. Die Zahl der Nachahmer wächst trotz zahlreicher Schutzmaßnahmen immer weiter. Ein Besuch der Gedenkstätte.
Die Gedenkstätte für die Toten von Columbine liegt versteckt hinter den Sportplätzen der Schule auf einer Anhöhe, von der man am Horizont die Rocky Mountains sehen kann. Eine „Wand des Heilens“, in der Zitate von Schülern, Überlebenden, Eltern, Notärzten und Präsident Clinton in Stein eingelassen sind, bildet den äußeren Rahmen. „Ein Kind in meinem Alter sollte nicht auf so viele Beerdigungen gehen müssen“, heißt es auf einer Steintafel. Auf einer anderen steht: „Die Definition von Normalität hat sich an diesem Tag geändert.“ Ein Schüler, der die Tragödie überlebt hat, schreibt: „Die Menschen reden von Momenten, die ihr Leben bestimmen. Ich lasse nicht zu, dass mich das hier bestimmt.“
Das sagt sich so leicht.
Im Herzen des Memorials, wo der „Ring der Erinnerung“ an diesem Tag unter 20 Zentimeter Schnee verborgen ist, steht ein älterer Mann mit dunkler Sonnenbrille und einem gelben Besen in der Hand. Auf dem Kopf trägt er über schütterem Haar eine Baseball-Kappe. Er zieht das rechte Bein nach, ist schlecht rasiert, hager und zittert trotz des strahlend blauen Himmels. Als er am Ende des Rings die Borsten ansetzt und die ersten Buchstaben im Marmor sichtbar werden, kann man es lesen: „Steven Curnow, 14, war ein ruhiger, nachdenklicher, großzügiger und nie nachtragender junger Mann.“
17, bis an die Zähne bewaffnet und schwarz gekleidet
Schleppend entwickelt sich ein Gespräch über Erinnerungskultur und das Grauen für die Angehörigen. Der alte Mann fegt gewissenhaft Eis und Schnee. Bis alle 13 Namen der Opfer frei liegen. Und die Geschichten dahinter. Als er hört, dass der Fragensteller aus Europa kommt, bricht der Mann mit seiner Einsilbigkeit. „Ich bin Bob Curnow, Steven war mein Sohn. Das jüngste Opfer der Katastrophe von Columbine.“
Am 20. April 1999 betreten Eric David Harris, 18, und Dylan Bennet Klebold, 17, bis an die Zähne bewaffnet und ganz in Schwarz gekleidet ihre Highschool, die nur 500 Meter entfernt von dem Ort liegt, an dem Bob Curnow jetzt steht. Sie erschießen zwölf Mitschüler und einen Lehrer, verwunden 24 weitere Menschen schwer, bevor sie sich am Ende in der Schul-Bibliothek selbst umbringen.
Die Nation stand unter Schock
Es ist das bis dahin folgenschwerste Massaker seiner Art. Die Nation steht tagelang unter Schock. Präsident Bill Clinton verfügt Staatstrauer. Als sich herausstellt, dass die Täter den Massenmord akribisch vorbereitet haben, als Schulaufsätze, Gedichte, Tagebucheinträge und Einkaufslisten Einblick in die von Hass, Größenwahn, Selbstmitleid und Gewaltphantasien deformierte Innenwelt der Mörder geben, folgen Filme („Bowling for Columbine“) und Dutzende Bücher. Geblieben sind Fragezeichen. Und gebrochene Menschen.
Bob Curnow ist 64. Columbine hat ihm alles genommen. Seine kränkelnde Ehe geht nach dem Amoklauf komplett in die Brüche. Der gelernte Landvermesser verliert seinen Job. Die Fußball-Schulmannschaft von Columbine, in der er seinen Sohn trainiert hat, der unbedingt Navy-Pilot werden wollte, gibt er ab. Diabetes macht ihm das Leben zur Qual. Ein Leben, von dem Curnow leise sagt, dass es sich „leider nicht ganz so entwickelt, wie ich mal erhofft hatte“.
„Steven wird für mich immer 14 Jahre alt sein“
Halt findet er in der Trauer. Er lebt sie allein, ist kein Aktivist an Rednerpulten und im Fernsehen geworden. Curnow wird früh treibende Kraft einer Gruppe, die das Denkmal plant. „Acht Jahre Arbeit stecken hier drin“, sagt er. Jeden Winter kommt er täglich her, damit der Schnee nicht verdeckt, was sichtbar bleiben soll. „Steven wird für mich immer 14 Jahre alt sein.“ Curnow unterdrückt ein Schluchzen. Hinter den dunklen Gläsern seiner Sonnenbrille laufen Tränen: „Schon verrückt, dass man den Namen seines Sohnes tausendfach googeln kann.“
Columbine markierte in den USA nicht nur das Ende der Illusion, dass es in Vorstädten und auf dem Land noch friedlich zugeht. Columbine wurde – Virginia Tech, Tucson und zuletzt Newtown und Washington DC lauten die Ortsmarken – zur Blaupause für andere Amokläufe. Über Amerikas Grenzen hinaus. In Deutschland reicht die blutige Spur der Nachahmer von Harris und Klebold von Erfurt bis Winnenden.
Eine Chronik der Amokläufe
Wie hat sich Littleton von der Tragödie erholt? Wer vor dem 15. Jahrestag auf Spurensuche geht in dem idyllischen Vorort von Denver im US-Bundesstaat Colorado, kehrt ernüchtert heim. Im Sommer vor zwei Jahren betrat James Holmes im 20 Minuten entfernten Aurora mit einem Sturmgewehr Kino 9 eines Multiplexes. Nach der Premiere des Batman-Films waren 12 Menschen tot und über 70 schwer verletzt. Holmes wird bald der Prozess gemacht. Todesstrafe nicht ausgeschlossen. Am 13. Dezember 2013 tauchte Karl Pierson in der sieben Meilen entfernten Arapahoe-Highschool in Centennial mit einer Schrotflinte, einer Machete, drei Molotow-Cocktails und 125 Schuss Munition auf. Claire Davis, eine Mitschülerin, stirbt. Pierson bringt sich danach selbst um. Wieder Denver. Wieder weiß niemand den Grund.
Auch Bob Curnow hat keine Antworten. Er sucht sie nicht mehr. Bei jedem neuen Amoklauf durchlebt er „alles wie am ersten Tag noch einmal“. Die Albträume und Angstzustände, die Panikattacken und Aggressionsschübe, die Verzweiflung. Bob Curnow hat viele Jahre Vorsprung vor anderen Eltern, deren Kinder bei Amokläufen ums Leben gekommen sind. Einen Rat, wie man damit am besten umgeht, hat er nicht. „Solange das Warum unbeantwortet bleibt, gibt es keine Normalität.“ Erst recht nicht in Littleton.
300 Trittbrettfahrer pro Jahr im Schulbezirk
Zu Armee-Zeiten war Captain J.W. Taylor in Garmisch-Partenkirchen stationiert. Er weiß, wie es sich anhört, wenn Deutsche Englisch reden. Was an diesem Tag auf dem Parkplatz hinter der Columbine Highschool, wie damals eingebettet zwischen adretten Mittelklasse-Häuser, dem beschaulichen Leawood-Park und der vierspurigen South Pierce Schnellstraße, ausgesprochen hilfreich ist. „Ein anonymer Anrufer hat vor einer halben Stunde am Telefon angekündigt, mit einem M-16 Sturmgewehr zur Schule zu kommen“, sagt der Polizist. Er will den Pass des Zeitungskorrespondenten sehen und einen Blick in den Kofferraum des Mietwagens werfen. „Es war eine männliche Stimme mit ausländischem Akzent.“
Per Funk gleicht der Beamte des Jefferson County Police Departements die Daten ab, fragt höflich seine Warum-sind-Sie-hier-Fragen, lächelt säuerlich, bis sich seine Miene entspannt, als aus der Zentrale Entwarnung kommt. „Sie können gehen.“ Kommt das häufig vor? „Und ob. Die Schule meiner Tochter ist ungefähr alle 14 Tage im lock-down“, sagt Taylor. So nennt man das, wenn Schultore und Klassenräume verriegelt werden, weil Irre Kinder bedrohen. Vorsichtsmaßnahmen, die es vor Columbine so nicht gab. Heute Standard. Der Trittbrettfahrer wegen. „Im Schulbezirk haben wir 300 Fälle im Jahr“, sagt Taylor, „an den Jahrestagen von Columbine manchmal mehrere hintereinander.“ 300 Mal Angst und Ohnmacht.
Ein Besuch bei den Eltern der Mörder
Bob Curnow hat von dem Zwischenfall nichts mitbekommen. Vielleicht wollte er nichts mitbekommen. Nach dem Massaker von Columbine hat er die Eltern der Mörder seines Sohnes besucht. „Ich habe ihnen gesagt, ihr tragt keine Schuld.“ Er ist gegen die Todesstrafe. An schärfere Waffengesetze glaubt er nicht. „Erinnern Sie sich noch an die Prohibition? Die Leute wollten trinken, also haben sie sich einen Weg gesucht.“ Menschen, sagt Bob Curnow 15 Jahren nach Columbine, haben sich „immer schon umgebracht. Sie werden es weiter tun.“