Essen. Computerspiele haben nicht den besten Ruf. Dabei geben sie dem Leben eine Extraportion Glück. Durch die „Gamification“ werden heute Diäten, Fitnessprogramme und spritsparsames Fahren zum reinsten Spielvergnügen.
Im Stadtpark sind die Zombies los – und ich stecke mittendrin. Sie rennen, sie meucheln, sie gieren nach Hirn. Sie haben die Stadt überflutet, greifen Häuser und Bauernhöfe an. Nur gut, dass ich die Laufschuhe geschnürt habe und Kopfhörer trage, denn so bekomme ich per Smartphone meine Ansagen, was zu tun ist.
Wohin ich laufen muss, wo ich Batterien, Medikamente, Munition einsammeln soll – und wie schnell das zu gehen hat. Sie ahnen bereits: Ich bin in ein Spiel abgetaucht, die Spielfläche ist meine echte Laufstrecke. Das Spielchen „Zombies, Run!“ ist somit in mein wöchentliches Lauftraining eingedrungen, es macht mir ordentlich Beine – und ich habe auch noch Spaß dabei.
Bei Spielen wachsen wir oft über uns hinaus, sie motivieren uns besser als jeder Coach, durch sie sind wir konzentrierter bei der Sache. Und sie dringen immer stärker in unseren Alltag ein, denn längst haben auch Firmen und Institutionen erkannt, dass man sich den Spieltrieb zunutze machen kann.
Und so erobern Spiele unseren Alltag, das Modewort dafür heißt „Gamification“, also in etwa „Spielifizierung“. Und wir können davon profitieren: Neben außergewöhnlichen Fitnessprogrammen gibt es längst Apps, mit denen wir unsere Gesundheit verbessern, uns weiterbilden – oder ganz einfach Hausarbeiten erledigen können. Und viele Unternehmen haben begriffen: Gamer sind die besseren Problemlöser.
Deutschland, 2013. Die Zombieapokalypse hat nicht stattgefunden. Noch nicht. Aber Deutschland hat sich in ein Land voller Computerspieler verwandelt: Auf 25 Millionen Gamer schätzt der Bundesverband Interaktive Unterhaltungssoftware (BIU) die Zahl jener, die zumindest gelegentlich zur elektronischen Ablenkung greifen. Das sind immerhin 36 Prozent der Bevölkerung, mehr als jeder Dritte.
Wären die Gamer eine Volkspartei, dann wären sie Angela Merkel derzeit dichter auf den Fersen als jede andere Partei. Längst verblasst sind jene Klischees vom verpickelten, sozial gehemmten Teenager, der in einem Schlachtfeld aus Pizzakartons und Chipstüten seinen einsamen Fantasien von elektronischer Weltbeherrschung frönt.
Der Siegeszug der Computerspiele vollzieht sich vergleichsweise geräuschlos, weil der stärkste Anteil der Gamer immer noch in der Altersgruppe unter 30 zu finden ist. Aber es ist längst kein Geheimnis mehr, dass der Markt für Videospiele die Kinobranche schon vor Jahren überflügelt hat, zumindest was die Umsatzzahlen angeht. Gerade auf die junge Generation übt also wahrscheinlich ein Nathan Drake aus „Uncharted“ oder ein Ezio Auditore aus „Assassin’s Creed“ einen stärkeren Einfluss aus als ein James Bond oder Jason Bourne es noch vermag.
Was ist überhaupt ein Spiel?
Was aber macht digitale Spiele so attraktiv, dass selbst das mächtige Hollywood sich bei der Inszenierung seiner Filme oft an Videospielästhetik orientiert und populären Figuren wie Lara Croft eigene Filmreihen geschenkt hat?
Dazu muss man sich zunächst kurz fragen, was denn überhaupt ein Spiel ist. Eine recht gute Antwort liefert der kanadische Philosoph Bernard Suits: „Ein Spiel zu spielen bedeutet, aus freiem Willen zu versuchen, unnötige Hindernisse zu überwinden.“ Dabei sind diese merkwürdigen „unnötigen Hindernisse“ durch Gestaltung und Regeln des Spiels gegeben, die es erschweren, das Ziel des Spiels zu erreichen.
Sonst könnte ja beim Fußball auch jeder Kicker versuchen, wie einst Maradona den Ball mit Hilfe der „Hand Gottes“ ins Tor zu befördern. Wesentlich für ein Spiel ist zudem ein Feedbacksystem, also eine Rückmeldung über den erreichten Erfolg, sei es in Form von Punkten, Fortschrittsbalken oder Spielstufen, den vielzitierten „Levels“.
Ein echter Glücksproduzent
Wenn also all diese Voraussetzungen erfüllt sind, dann, ja dann kann auch der Spielspaß sich endlich entwickeln. Denn man sollte nicht unterschätzen: Spiele sind wahre Glücksproduzenten, sie bringen zugleich Geist und Körper in Aktion. „Alle neurologischen und physiologischen Systeme, die dem menschlichen Glücksempfinden zugrunde liegen – sprich: die Aufmerksamkeits-, Belohnungs-, Motivations-, Gefühls- und Erinnerungszentren im Gehirn – werden durch Spiele restlos aktiviert“, beschreibt die kalifornische Spieleentwicklerin Jane McGonigal in ihrem Buch „Besser als die Wirklichkeit“ diesen Effekt. Computer- und Videospiele bündeln diese extremen Gefühlsreize so konzentriert wie kaum etwas anderes.
Völliges Aufgehen im Spiel
Es ist ein rauschhaftes Gefühl, das schon 1975 näher beschrieben wurde und das sich „Flow“ nennt. Der amerikanische Psychologe mit dem schwierigen Namen Mihály Csíkszentmihálys beschrieb es als „völliges Aufgehen des Handelnden in seiner Aktivität“, man vergisst also Zeit und Raum und gibt sich ganz seiner Beschäftigung hin. Viele Sportarten sind gut dazu geeignet, solche Gefühle in uns auszulösen, Tanz oder Schach ebenfalls.
Wenn es also so einfach ist, mit Hilfe von elektronischen Spielen ein Gefühl höchster Motivation und Konzentration herbeizuführen, es quasi per Knopfdruck in einem Menschen zu aktivieren, war es eigentlich nur eine Frage der Zeit, bis jemand auf die Idee kommen sollte, diesen Mechanismus auch anderweitig zu nutzen.
Den Spielmechanismus nutzen - für Diäten und Sport
Nämlich eben dort, wo klassischerweise ein himmelschreiender Mangel an Motivation herrscht, also bei so lästigen Dingen wie Lernen, Fitnesstraining oder Hausarbeit. Für all diese Dinge gibt es natürlich auch schon ein recht erfolgreiches Spiel: Beim Smartphone-Game „Epic Win“ definiert man einzelne, lästige Aufgaben des Alltags zu einer Liste und fürs Abarbeiten gibt es Punkte, Belohnungen und Fähigkeitssteigerungen der Spielfigur, also ein vielschichtiges Feedback-System.
Dieses elektronische Helferlein mag vielleicht die Motivation bis zu einem gewissen Grad anzukurbeln, ihm fehlen jedoch großenteils die lustvollen Spielmomente, die man erlebt, wenn man eine neue und wirklich interessante Aufgabe bewältigt. Denn Wäscheaufhängen und Spülmaschineausräumen bleiben ja dieselben Tätigkeiten, selbst wenn im Anschluss das Handy jubilierend blinkt.
Allerdings darf man seine Erfolge als Held des Alltags selbstverständlich auch noch bei Twitter oder Facebook öffentlich machen. So kann man in den Wettbewerb mit Freunden treten, die dasselbe Programm nutzen.
Überhaupt sind die sozialen Netzwerke das beste Beispiel dafür, wie elektronische Medien unser Verhalten beeinflussen. „Es hat sich verändert, wie man mit seinen Freunden Kontakt hält. Da gibt es über die sozialen Netzwerke ganz neue Arten, Freundschaften zu pflegen. Und seit vier, fünf Jahren gibt es in den sozialen Netzwerken eben auch Spiele.
Dadurch erleben wir eine Gamification der Freundschaftspflege“, sagt Andreas Lange, Leiter des Deutschen Computerspielemuseums in Berlin. Ein Spiel wie „Farmville“ etwa ist auf Kooperation angelegt, es macht nur Spaß und bringt nur Erfolg, wenn man es gemeinsam mit seinen Freunden spielt. Und gerade die „Farmville“-Reihe gehört zu den Multimillionenerfolgen der letzten Jahre – auch wenn hartgesottene Zocker alter Schule über Kürbisernte und Pferdchenzucht nur milde lächeln.
Auch hieran kann man erkennen, dass Spieler heute keine Freaks mehr sind, die immer nach dem neuesten Grafik-Thrill und der schwersten Rätsel-Nuss suchen: „Auch die ganz einfachen Spiele sind welche, die sehr weite Verbreitung finden und gern angenommen werden, weil sie leicht erlernbar sind“, so Andreas Lange.
Mit Spielen die Welt retten
Die Idee, Spielemechanismen in unseren Alltag zu übertragen, ist natürlich nicht neu, man denke nur an die Vielfliegermeilen, die man sammeln kann, oder früher an Rabattsysteme. Selbst das Punktesystem der Weight Watchers trägt spielartige Züge und wurde schon mit einer App ins digitale Zeitalter geführt. Und das ist schließlich nicht das schlechteste Beispiel für die positive Auswirkung von Spielen auf unser Leben.
Ließe sich das noch weiter treiben? Können wir nicht nur Pfunde verlieren, sondern vielleicht den Klimawandel stoppen? Oder gar Krieg und Hunger in der Welt quasi im Spielen beenden?
Die Ansätze dafür sind da, eine schöne Sammlung dazu liefert die Zukunftsforscherin Nora S. Stampfl in ihrem Buch „Die verspielte Gesellschaft“. Die praktischste Anwendung von Gamification findet man etwa beim Blick aufs Armaturenbrett etwa von Toyota Prius, Ford Focus, Nissan Leaf oder dem Honda Insight Hybrid, denn sie alle haben ein Spiel an Bord, das man mit seinem Fahrverhalten steuert.
Je umweltbewusster ein Fahrer sich beim Tritt aufs Gaspedal verhält, desto prächtiger gedeiht das digitale Bäumchen auf dem Display. Ein simples Spiel also, das dabei hilft, Treibhausgase zu reduzieren – und das man allzu gern mitmacht. Auch das PC-Spiel „World Without Oil“ hatte das Ziel, den Teilnehmern ein Bewusstsein für die Knappheit des Rohstoffes zu vermitteln, einen Dialog darüber zu beginnen und nach technischen Lösungen zu suchen.
Tausende Gehirne produzieren Ideen
Einen ähnlichen Erfolg verzeichnete das Spiel „Evoke“, das von der schon erwähnten Spieleentwicklerin Jane McGonigal im Auftrag des World Bank Institute geschaffen wurde, um tatsächliche globale Probleme wie den Hunger oder die Bekämpfung von Seuchen gemeinsam anzugehen.
Der entfesselte Dialog gipfelte in tausenden Blogeinträgen, so dass einige ernsthafte Ansätze für wirtschaftliche Probleme in Drittweltländern gefunden wurden – basierend auf der Idee, dass tausende Gehirne mehr und bessere Ideen produzieren als wenige.
Auch interessant
Dieses Konzept nennen die Experten „Crowdsourcing“. Und es wird nicht immer so weltverbesserisch umgesetzt wie im Falle von „Evoke“. So lassen etwa die Kunsthistoriker der Münchener Ludwig-Maximilians-Universität die Werke des Instituts für Kunstgeschichte von Internetspielern mit Schlagwörtern versehen.
Auf diese Weise pflegen Sie ihr Archiv ohne großen eigenen Aufwand. Damit das klappt, haben sie sich das Spiel „Artigo“ ausgedacht, bei dem die Spieler die Kunstwerke mit möglichst treffenden Schlagwörtern versehen müssen. Diese werden mit den Schlagwörtern anderer Nutzer verglichen, je nach Übereinstimmung gibt es Punkte. So ersparen sich die Forscher abertausende Stunden Fleißarbeit.
Die Grenzen zwischen Spiel und Leben verwischen
Wir werden in Zukunft an jeder Ecke spielifizierten Herausforderungen begegnen, auch an Stellen, an denen man sie nicht erwartet hätte. So nutzen die Computerfirma Sun Microsystems ebenso wie die Unternehmensberatung McKinsey & Co. schon Computerspiele bei der Personalauswahl.
Auch Meinungsumfragen lassen sich durch kleine Spiele versüßen und beim Abgewöhnen des Rauchens können sie helfen – auch wenn man hier nur seine Daten eingeben muss, um dann vorgerechnet zu bekommen, wie man Geld gespart und Gesundheit gewonnen hat.
Ist Gamification also das Allheilmittel, mit dem wir jedes Problem in den Griff bekommen? Und mit dem Unternehmen, Institutionen und Spieleentwickler unser Verhalten in ihrem Sinne beeinflussen können? Hier ist Skepsis angebracht, denn zum einen reagieren Menschen sehr empfindlich, wenn sie merken, dass sie von anderen manipuliert werden – und sei es nur mit einem Spiel.
Zum anderen tut sich eine weitere Gefahr auf: Es gibt die Tendenz bei der Gamification, die Grenzen zwischen Spiel und Realität stark zu verwischen, etwa wie bei einem Fußballprofi, der einsehen muss, dass das Spiel längst Arbeit ist. „Wenn ich weiß, das ist ein Spiel, dann bin ich viel freier und kann viel lustvoller handeln. Ich gehe im Augenblick davon aus, dass die Lust am Spiel leiden wird, je mehr diese Grenzen verschwinden“, sagt Spieleexperte Andreas Lange.
Noch aber steckt die Gamification in ihren Kinderschuhen. Oder in meinem Falle: In den Laufschuhen, das haben auch die Zombies bei mir im Stadtpark begriffen. Ohne sie, das würde ich wetten, wäre ich nicht beinahe jeden Tag auf Lauf-Mission gewesen. Und ohne sie hätte ich es wohl nicht geschafft, pro Kilometer 30 Sekunden schneller zu laufen – und das alles ganz ohne Motivationstrainer.
Die Gamescom und Büchertipps
Am Donnerstag, 22. August 2013, öffnet die Kölner Messe die Gamescom, die weltweit größte Messe für Computer- und Videospiele (9 - 20 Uhr, Eintritt: 6,50 Euro, Dauerkarte: 32 Eur0, bis Sonntag) www.gamescom.de
Wollen Sie mehr wissen? Dann lesen sie dies: Jane McGonigal: Besser als die Wirklichkeit. Heyne, 498 S. 19,99 Euro; Nora S. Stampfl: Die verspielte Gesellschaft – Gamification oder Leben im Zeitalter des Computerspiels. Heise, 120 S., 14,90 Euro