Essen. Wie werden wir in der Zukunft unsere Energie erzeugen? Das ist nicht nur eine Frage nach der richtigen Technik, die sicher und umweltschonend ist. Es ist auch eine Frage der Ethik: Rafaela Hillerbrand, Physikerin und Philosophin, gibt Antworten.
Energieversorgung – wieso ist das ein ethisches Problem, Frau Hillerbrand?
Rafaela Hillerbrand: Alle Techniken sind nicht nur mit Nutzen und Chancen verknüpft, sondern auch mit Risiken. Dies gilt für Kraftwerke ebenso wie für Stromleitungen. Der Unfall in den Kernreaktoren von Fukushima oder die Erderwärmung als Folge der Verbrennung fossiler Energieträger zeigen dies überdeutlich. Was aber für wen und warum ein Risiko darstellt und wie hoch dieses Risiko zu beurteilen ist, das ist kein rein naturwissenschaftlich-technisches, sondern ein ethisches Problem. Hinzu kommt: Der Einzelne hat hier kaum Einfluss auf wichtige Entscheidungen und muss sich auf die Risikoabwägung von Politik und Rechtsprechung verlassen. Die Risiken wie Unfälle oder die Folgen der Erderwärmung muss aber die gesamte Gesellschaft tragen – sowohl heute wie auch in Zukunft. Deshalb muss sich eine politische Entscheidung auf ethische Prinzipien stützen, um durch Risikoabwägung zu einem Energiemix zu gelangen, der allen Bürgern gegenüber vertretbar ist.
Geht es bei der Energieversorgung der Menschen nur um ausreichend viele Kilowattstunden oder auch um Wohlstand, soziale Teilhabe und Wohlergehen?
Ein ethischer Blick auf die Energieversorgung beinhaltet immer eine ganzheitliche Perspektive. Eine sichere und verlässliche Energieversorgung muss gegen andere Ziele wie etwa Umwelt- und Klimaschutz abgewogen werden. Da viele Nebenwirkungen heutiger Energieversorgung – etwa die Gefahren eines nuklearen Endlagers oder die Klimaerwärmung – vor allem zukünftige Generationen treffen, wird dieser Diskurs gerne unter dem Schlagwort der „Nachhaltigkeit” geführt. Das bedeutet: Eine nachhaltige Energieversorgung muss Umweltaspekten Rechnung tragen, um zukünftigen Generationen nicht die Lebensgrundlagen zu rauben.
Wie gestaltet man eine ethisch wünschenswerte Energieversorgung?
Ethik kann zusammen mit den Technik- und Naturwissenschaften und den Sozialwissenschaften eine Vorlage für eine wünschenswerte Technik liefern. Den Weg dorthin weist die Methode des ethisch basierten Gestaltens: Zum einen wird durch allgemeinverbindliche Werte der Rahmen abgesteckt, innerhalb dessen sich ein ethisch vertretbarer Energiemix befinden muss; zum anderen gilt es, die Interessen zu berücksichtigen, die alle beteiligten Gruppen bezüglich der Energieversorgung von heute haben – vom privaten Verbraucher bis zum Unternehmer. So werden Werte und Interessen ausbalanciert.
Was ist ein gutes Leben und wie muss Energieversorgung beschaffen sein, damit sie uns dabei voranbringt?
Wie alle Techniken sind auch die Energietechniken nicht Selbstzweck, sondern dienen der Verbesserung menschlichen Lebens. Ihnen kommt also eine instrumentelle Funktion zu. Wie gutes Leben auszusehen hat, lässt sich in einer modernen demokratischen, wertpluralen Gesellschaft nicht für alle festlegen. Dies bedeutet, dass der SUV-Fahrer nicht per se als unmoralisch abgetan werden kann: Ein Festhalten an demokratischen, wertpluralen Idealen führt allerdings auch nicht zu einem „Alles-Geht“ in der Energiepolitik, wie es der Wirtschaftsliberalismus oft predigt.
Kann die Ethik der Politik konkrete Handlungsvorschläge machen? Anders gefragt: Fehlen ethische Argumente in der Debatte um Stromerzeugung, Energiewende und Netzausbau?
Im derzeitigen politischen Diskurs sind ethische Argumente leider Mangelware. Die Frage nach einer nachhaltigen Stromerzeugung wird reduziert auf ökologische oder ökonomische Aspekte. Soziale Aspekte bleiben weitgehend außen vor, und – meines Erachtens das größte Problem – eine Abwägung der verschiedenen Aspekte findet bislang nicht statt. Auch regenerative Energietechniken haben Nachteile, und seien es nur ihre Kosten. Diese gegen die Risiken herkömmlicher Energietechniken abzuwägen und so zu einem sinnvollen und ethisch-vertretbaren Energiemix zu gelangen, ist eine drängende politische Aufgabe, die sich auf ethische Kriterien stützen muss.
Welche Energietechnologie wäre aus ethischer Sicht die Richtige?
Eine ethische Bewertung kann niemals nur einzelne Energietechniken in Augenschein nehmen. Alle Techniken gehen mit erheblichen Risiken einher und der Ausstieg aus einer Technologie mag eine vermehrte Nutzung anderer Energietechniken nach sich ziehen. 2012 etwa erhöhten sich in Deutschland wegen der vermehrten Verbrennung von Stein- und Braunkohle in Folge des Ausstiegs aus der Kernenergie die Kohlendioxid-Emissionen. Es lassen sich also nur ganze Energieszenerien ethisch vergleichen. Die Ethik spannt dabei den Rahmen auf, innerhalb dessen sich politische Entscheidungsfindung abspielen sollte.
Was bedeutet eine gerechte Energieversorgung?
Es geht dabei nicht um gleichviel Energie für alle. Ein Stahlofenbetreiber benötigt mehr als ein Privatmann. Was gerecht verteilt werden muss, sind grundlegende Freiheiten des Individuums – also Handlungsfreiheiten, die durch die Energieversorgung zum Teil erst ermöglicht werden – etwa lesen und lernen bei künstlichem Licht im Dunkeln. Auf der anderen Seite stehen Freiheiten, die durch bestimmte Energietechniken unter Umständen erheblich eingeschränkt werden – zum Beispiel, weil sie Überwachungsmaßnahmen erfordern wie ein nukleares Endlager oder weil sie den unbebauten Naturraum reduzieren, etwa durch einen neuen Staudamm.
Zur Person
Rafaela Hillerbrand (36) promovierte in Theoretischer Physik und in Philosophie. An der RWTH Aachen leitete sie eine Arbeitsgruppe zu Ethik und Energietechnik, 2012 wechselte sie ans Zentrum für Ethik und Technologie der TU Delft. Die Expertin für Technikfolgenforschung erhielt zahlreiche Preise und Stipendien.