Civitanova Marche. . Wie in Italiens Dauerkrise zwei sehr tragische Geschichten das Land bewegen. Ein älteres Pärchen schämte sich, Sozialleistungen anzunehmen und brachte sich um. Und ein Arbeitsloser brach aus Verzweiflung ein und wurde niedergestochen.
In der Adriastadt Civitanova Marche haben sich zwei Eheleute umgebracht. Der 62-jährige, arbeitslose, in Erwartung ausstehenden Lohns hoch verschuldete Maurer Romeo D. und die 68-jährige Rentnerin Anna Maria S. hätten keinen anderen Ausweg aus ihrer Armut gesehen, melden italienische Zeitungen. Und der 72-jährige Bruder der Frau habe sich gleich danach im Meer ertränkt, weil er den Verlust seiner Familienmitglieder nicht ertragen habe.
Nachbarn berichten, die Eheleute hätten zunehmend Angst gehabt vor einem „Leben ohne Würde“, vor dem sozialen Verfall, vor der „menschlichen Erniedrigung“ durch den Gerichtsvollzieher. Und Sozialleistungen, das bestätigt die Gemeinde, hätten die beiden aus Gründen der Selbstachtung nicht in Anspruch nehmen wollen. „Sie sind lieber verschwunden, als dass sie um Hilfe gebeten hätten“, sagte Bürgermeister Tommaso Claudio Corvatta.
Doch das, schrien aufgebrachte Bürger bei der Beerdigung, sei nicht wahr: „Sie wollten Hilfe, aber keiner hat sie ihnen gegeben.“ Es handele sich um „ein Verbrechen des Staates“; „Mörder“ säßen in den Behörden, in den Parteien, in der Regierung: Rufe wie diese musste sich Parlamentspräsidentin Laura Boldrini anhören, die zur Trauerfeier gekommen war. Und als eine Freundin der Familie in der Kirche einen Brief an die Toten vorlas – „nicht ihr hättet euch schämen müssen!“ – wurde sie von Applaus unterbrochen.
In den Ruin getrieben – der Krise wegen
Die Tragödie von Civitanova Marche ist bereits die zwölfte ihrer Art im laufenden Jahr: Arbeiter, die ihren Job verloren haben, Unternehmer, die vor Schulden nicht mehr über die Runden kamen, Hoteliers, die das Ausbleiben der Gäste in den Ruin getrieben hat – so viele seien „der Krise wegen“ aus dem Leben geschieden, schreiben die Zeitungen; schon im Vorjahr seien es 89 gewesen. Und die Stimmung hellt sich nicht auf. Die Arbeitslosigkeit, speziell bei jungen Leuten, steigt ungebrochen weiter an. Das römische Forschungsinstitut Eurispes hat ermittelt, dass drei von fünf italienischen Familien ihre Ersparnisse anknabbern müssen, um bis ans Monatsende zu kommen; die Kaufkraft ist laut der staatlichen Statistikbehörde so stark gesunken wie seit mehr als zwanzig Jahren nicht mehr.
Fast zeitgleich mit der Meldung aus Civitanova Marche bewegt eine andere Geschichte das Land. Sie spielt in der Toskana, und auch sie handelt von einem verzweifelten Arbeitslosen: dem 54-jährigen, nach dreißig Berufsjahren entlassenen Gärtner Marcello M., dem – nach der Versteigerung von Schmuck und Möbeln – nur die 250 Euro blieben, die seine Ehefrau monatlich als Berufsunfähigkeitsrente erhält, und der auf seine Weise zu Geld kommen wollte: Er klaute Kupferkabel.
Marcello M. brach nachts ein
Marcello M. brach nachts in eine Rohbausiedlung ein, geriet mit dem dort lebenden Verwalter und dessen Küchenmesser aneinander, trug eine Schnittwunde am Bauch, ein gerichtliches Schnellverfahren und ein überraschendes Schreiben davon. In diesem – als Offenen Brief an die Lokalzeitung geschickt – entschuldigte sich der Siedlungsverwalter für die Verletzung, die er dem Einbrecher im ersten Schrecken zugefügt hatte und machte eine Rechnung auf: „Die ganze Nacht hast du mit dem Herausziehen der Kabel zugebracht, 18 Kilo Kupfer erbeutet, welche dir beim Verkauf 60 Euro bringen; gleichzeitig hast du einen Schaden von 6000 Euro angerichtet. War’s das wert?“
Der Verwalter bot ihm eine Lösung an
Dann bot der Verwalter, den die Carabinieri über die Lebensumstände des Marcello M. informiert hatten, spontan eine Alternative an: „Wenn du deine paar Tage Hausarrest hinter dir hast, dann kommst du an meiner Baustelle vorbei. Bring einen Rasenmäher mit und ich verspreche dir, du kannst meine Wiesen für acht Euro die Stunde mähen. Und deine Frau bringst du auch mit, es gibt hier fünfzig Apartments zu putzen. Wir trinken ein Glas Wein zusammen und ich versuche dir zu zeigen, dass es weniger komplizierte Wege zu einer würdigen Lebensführung gibt. Ich warte auf dich, die Adresse kennst du ja.“
Überflüssig zu sagen: Marcello M. hat das Angebot „mit offenen Armen“ angenommen.