Winterberg. . In Winterberg verbringen drei Unverfrorene eine Nacht im Schnee. Bei Temperaturen, die man sonst höchstens nördliche des Polarkreises vermutet, stiefeln sie durch eine blendend weiße Landschaft, mit Sack und Pack auf Schlitten.

Oh, wie kalt ist Winterberg! (Aber womöglich heißt es deshalb so.) Nicht einmal in Uummannaq ist es kälter an diesem Tag, und das liegt bald 600 Kilometer nördlich des Polarkreises. Es schneit, seit Tagen schon, der Schnee liegt wie ein dichter Pelz auf dem Hochsauerland, über die Hügel hat er Stille fallen lassen. Minus drei Grad, Tendenz rasch sinkend, das ist deshalb immerhin: schön kalt. Vor allem aber schön geredet – denn wir müssen draußen bleiben.

Und da kommen sie uns bei der Tourist-Information so: „Bei klirrendem Frost bildet der Atem kleine Wölkchen.“ Was für eine Hilfsromantik als warme Verpackung eiskalter Wahrheit. Wir sind angetreten, das Überleben im Eis zu üben. Drei mitteleuropäische Memmen mit Mütze auf Expedition zu den Eskimos. Nur ohne Eskimo, dafür mit Josef. „Winterbiwak in Winterberg“, damit haben sie uns hinter dem Ofen hervor gelockt. „In der Sonne können alle liegen“, sagt Josef und schnürt Schlafsäcke auf einen Schlitten.

Drei Wanderer im Schnee sind vor dem Gespann ihr eigenes Pferd

Karl-Josef Metzmacher hat unsere Kleidung kontrolliert, zwei Schichten Skiunterwäsche, Thermohose, Anorak (ein grönländisches Wort, jetzt wissen wir auch, warum), Puschelpulli, Mütze, Schal, Handschuhe, und alles bitte in doppelter Ausführung in den Rucksack. Ja, kann man Unterwäsche denn hier wechseln? „Klar wird gewechselt. Auf links und untereinander.“ Wir lachen – noch. „Die Scham“, sagt Josef, „geht nach zwei, drei Tagen vorbei.“ So lange wollten wir nicht bleiben, wir fragten ja auch bloß wegen der Kälte.

„Du darfst nicht frieren und nicht schwitzen“, beides scheint unmöglich, als wir hinausziehen aus der Garage in die Wildnis. Der Schnee ist stärker geworden, von oben wird die Mütze weiß, unten reicht er bald bis an die Knie. Ich aber bin mein eigenes Pferd: eingespannt in ein Geschirr, an dem die Pulka hängt, der „Wannenschlitten“ mit allem Gepäck. Und natürlich geht es bergauf. „Nachts mache ich die Tür nicht auf“, hat Josefs Frau noch gewarnt, sie stand kurzärmelig in ihrem auffallend gut geheizten Haus. Ist denn schon mal jemand weinend zurückgekehrt aus dem Camp? „Nein“, sagt Annegret und mustert uns, mitleidig etwa? „Aber das waren auch immer Outdoor-Leute.“

Unterwegs mit Reinhold Messner und Arved Fuchs

Karl-Josef Metzmacher und seine Expeditionscrew laufen durch die weiße Weite.
Karl-Josef Metzmacher und seine Expeditionscrew laufen durch die weiße Weite. © WAZ FotoPool

Ihr Josef nämlich, der macht das öfter. 30 arktische Expeditionen hat er hinter sich, echte Arktis, nicht unsere vorgetäuschte; er war „der Mann im Schatten“. Unsichtbar neben Extrembergsteiger Reinhold Messner, hinter Polarforscher Arved Fuchs. Aber lebenswichtig: Denn erst hat Metzmacher, Metzgermeister aus dem Sauerland, das „Pemmikan“ neu erfunden, jene hochkalorische, unverderbliche Nahrung der alten Trapper und Entdecker, aus Fleisch und Fett, Beeren und Getreide, von der allein Messner 150 Kilo mitnahm auf eine seiner Reisen.

Später begann er, selbst Neulinge zu schulen für die große Kälte. Hielt Seminare in einem ausgedienten Kühlhaus, lehrte Annegrets „Outdoor-Leute“ das Bohren von Eislöchern, das Wesen der Schlittenhunde, das Wandern mit Schneeschuhen. Sieben malaysische Frauen hat er so in die Antarktis gebracht und ein paar Polen zum Nordpol. Eine Frau machte er fit, „mit 35 Männern klarzukommen“; man wüsste gerne, wie. Und auch Extremsportler Joey Kelly ging vor seinem Rennen zum Südpol bei Metzmacher in die Schnee-Schule.

Und jetzt also wir, in Winterberg. Die Zehen frieren, der Rücken schwitzt, das ist doch für Anfänger! Unser Ziel ist eine Pferdeweide, fernab jeder Zivilisation. (Aber bei trockenem Wetter allenfalls sieben Geh-Minuten davon entfernt.) Einsam ist es hier oben und vollkommen still, das ist es wohl, was Josef einst gereizt hat: „Die Ruhe, die Natur, der heitere Sinn.“ Tatsächlich müssen wir gefrierende Tränen lachen, als ein Karabinerhaken sich untrennbar in einen Rucksack frisst. Aber das hat Josef vielleicht gar nicht gemeint. „Kein Alkohol, kein Nikotin“, so sei das für Fremde im ewigen Eis. „Und kein Liebeskummer“, sagt Josef und löst den Haken mit der Zange.

„Ein guter Trapper hat stets etwas trockene Birkenrinde dabei“

Karl-Josef Metzmacher teilt den Grünkohl aus.
Karl-Josef Metzmacher teilt den Grünkohl aus. © WAZ FotoPool

Sowas hat er immer mit, eine Bürste auch, den Schnee wegzufegen, und lauter kleine Mittelchen, um Feuer zu machen, wenn die Streichhölzer nass sind und die Temperaturen zu tief für ein Gasfeuerzeug. „Ein guter Trapper hat stets etwas trockene Birkenrinde dabei.“ Außerdem Klopapier, „für Töpfe, Nase, Schweiß und alles andere“. Und einen Hammer: So tief schlagen wir die Heringe durch die Schlaufen unserer schneenassen Zelte, dass wir einige am nächsten Tag zurücklassen müssen. Man muss das praktisch sehen: „Bei sportlichen Aktivitäten“, hatten die Touristiker geschrieben, „wird allen schnell wieder warm.“ Selten so gern einen Haufen Schnee platt getrampelt, selten so gern schweres Holz geholt. . .

Später sitzen wir im Schein des Gaskochers beim Grünkohl – sooo weit ist das gute Leben ja doch noch nicht entfernt. In der Arktis, weiß Josef, träumen alle vom Essen. „Keiner spricht es aus, aber hinterher steht es bei allen im Tagebuch: wie sie sich sehnen nach einer guten Mousse au Chocolat.“ 7000 Kilokalorien brauche der Mensch in der Kälte, und trotzdem: „Man ist schneller erfroren als verhungert.“ Und das viele nötige Wasser, ach: „Das schmeckt nach einer Weile besser als jeder gekelterte Wein.“ Nun. Wir hätten jetzt gern einen gebrannten, aber Alkohol macht das Blut dünn, warnt Josef: „Dann friert ihr noch schneller.“

Abends am Lagerfeuer erzählt Josef Geschichten aus 1001 Schnee-Nacht

Der Morgen danach: Der Schnee hat die Zelte fast komplett unter sich begraben.
Der Morgen danach: Der Schnee hat die Zelte fast komplett unter sich begraben. © WAZ FotoPool

Weil das kaum geht, machen wir Feuer, und spätestens hier fängt die Romantik an, wenn auch nicht wegen der Atemwölkchen. Sechs Hände wärmen sich über den Flammen, und Josef erzählt. Von verschollenen Schlitten, erfrorenen Fingern und Mäusen im Rucksack. Von läufigen Hündinnen, Gruppenkoller und Schneeblindheit. Von Stürmen, Eisbären und Heimweh. Und das Beste von berühmten Expeditionen, „das lest ihr in keinem Buch“. Josef selbst, inzwischen 73, hat noch keins geschrieben, dafür 25 Tagebücher in seiner aktiven Zeit. „Ein Mallorca-Urlauber kann 15 Minuten erzählen, ich erzähl’ das ganze Jahr.“ Und für uns die halbe Nacht.

Und doch kommt der Moment, da wir schlafen gehen müssen. Auf den Knien aus den Wanderschuhen, hinein in eine doppelte Hülle aus zwei Schlafsäcken. „Wenn ihr schwitzt, müsst ihr was ausziehen!“, mahnt Josef, der Schweiß könnte den Körper kühlen, wie es seine Aufgabe ist. Es kommt nicht dazu. Letzte Worte aus dieser Nacht: „Ist dir auch so kalt?“ Ich wusste gar nicht, dass Schnee, der auf Zeltplane fällt, prasselt wie feiner Regen.

Am Morgen ist das Zelt weg. Aber wir sind noch darin. Der Schnee hat uns wärmend zugedeckt, draußen wartet Josef mit heißem Instant-Kaffee. Er hat unter freiem Himmel geschlafen. Nur die eisigen Flocken im Gesicht, sagt er, die seien doch etwas kalt gewesen.