Bochum. Der Biopsychologie-Professor Onur Güntürkün der Ruhr-Universität Bochum ist vor kurzem mit dem Leibniz-Preis ausgezeichnet worden. Der „deutsche Nobelpreis“ ist mit 2,5 Millionen Euro dotiert. An Tauben untersucht der Wissenschaftler, wie unser Gehirn Prozesse vollzieht. Ein Porträt eines charismatischen Hochschullehrers.
„Ich tue eigentlich nichts anderes als das, was ich als kleiner Junge getan habe“. Das macht Onur Güntürkün aber wohl so gut, dass er kürzlich mit dem Leibniz-Preis ausgezeichnet wurde. Der „deutsche Nobelpreis“ ist mit 2,5 Millionen Euro dotiert, die der Biopsychologie-Professor der Ruhr-Universität Bochum nun in „tiefere“ Forschung investieren kann.
Als Neunjähriger habe er schon Rüsselkäfer in Schachteln und Kassetten durch Labyrinthe laufen lassen, um zu sehen, ob sie lernen könnten. „Seither habe ich nie etwas anderes gemacht“, grinst er etwas schelmisch. Zu internationaler Reputation kam er mit Forschungen an Tauben. An den Vögeln untersucht er, wie das Gehirn grundlegende Prozesse vollzieht: Wahrnehmen, Entscheiden, Lernen. Tauben eignen sich für die Forschung gut, weil ihr Sehsystem dem des Menschen ähnelt – sowohl anatomisch als auch funktionell.
Professor mit 35 Jahren
Güntürkün hat eine bewegte Lebens- und Forschungsgeschichte. Geboren 1958 in Izmir, erkrankte er als Kind an Kinderlähmung. Nur zwei der drei erforderlichen Schutzimpfungen hatte er erhalten. Um eine optimale Behandlung zu gewährleisten, brachten ihn die Eltern nach Deutschland. Mit Hilfe der Leser einer Zeitung wurde eine vierjährige Behandlung bezahlt.
„Ich war der kleine türkische Junge, dem geholfen wurde“, sagt er heute. Mit 12 ging er in die Türkei zurück, machte dort das Abitur und entschied sich dann – als feststand, dass er Psychologie studieren wollte – für deutsche Universitäten. So kam er im Jahr 1975 zum ersten Mal nach Bochum: „Lange nicht so eine schöne Stadt wie heute, eher sehr trist“, sagt er.
1984 machte er seinen Doktor (summa cum laude), dann habilitierte er sich über die Stationen Paris, San Diego und Konstanz, ehe er 1993 als einer der jüngsten Professoren überhaupt mit nur 35 Jahren nach Bochum zurückkehrte. „Seither hat sich ungeheuer viel getan an dieser Universität“ urteilt der verheiratete Vater zweier Kinder begeistert.
Hier an der Bochumer Ruhr-Universität verband der Gelehrte vor allem zwei Wissensgebiete: die gemeinsame Forschung von Neurobiologen und Experimentalpsychologen wurde ab 1996 mit einem Sonderforschungs-Programm der Deutschen Forschungsgesellschaft zu einem großen Erfolg. Im Kern geht es darum, mit diesen Wissensgebieten gemeinsam zu enträtseln, wie das Denken funktioniert.
Güntürkün erläutert, das Denken habe „eine Architektur“, wie eine Sprache. Eine Art grammatikalisches Gerüst. Diese Grammatik gelte es zu analysieren und zu entschlüsseln. Ziel sei es, präzise vorherzusagen, welche Fehler gemacht würden und wie diese gemerkt werden. Dahingehende (experimentelle) Erkenntnisse müssten „ebenbürtig“ abgebildet werden auf die zweite Ebene. Das sei diejenige des „nassen Gehirns“ oder der „Realität des Gehirns“, wie sich der Forscher ausdrückt. Die Ergebnisse dieser Analyse auf zwei Ebenen wolle er aber nicht überbewertet wissen. „Wir als Neurowissenschaftler müssen da bescheiden bleiben“, sagt er.
Sein Lebensweg zwischen den Kulturen hat Onur Güntürkün auch zu einem Mittler zwischen der türkischen und der deutschen akademischen Kultur gemacht. In den Jahren 2000 und 2008 erhielt er die Ehrendoktorwürden der Universitäten Istanbul und Dokuz Eylül (Izmir), 2009 die Große Verdienstauszeichnung der Türkischen Republik und 2010 den Verdienstorden des Landes Nordrhein-Westfalen. Er sagt ganz deutlich: „Der Islam gehört zu Deutschland“ – auch wenn er selbst Atheist sei. Er steht ein für eine „bunte Republik“ und hält die Beschäftigung mit Integrationsthemen für eine „Bürgerpflicht“.
Zwischen modernen Computern und Taubenschlägen
Geht man mit ihm durch die schmalen grauen Gänge seines Instituts im Untergeschoss des Gebäudes Geisteswissenschaften A , so ahnt man viel von dem, was der Wissenschaftler als Entwicklung angesprochen hat. Hier herrscht rege Betriebsamkeit zwischen modernsten Computern und Taubenschlägen, junge Studenten laufen gar mit Täubchen in den Händen umher, die Umgangssprache ist Englisch. Die internationale Forschungsatmosphäre ist mit Händen zu greifen.
Was bewirkt der Leibniz-Preis, die zweieinhalb Millionen? „Ich fühle mich märchenhaft frei. Ich kann jetzt große Dinge angehen – perspektivisch und strategisch. Und ohne überzuschnappen“. Er wisse um Risiko und Verantwortung: „Das Geld haben Menschen erarbeitet, es ist ein gewaltiger Vertrauensvorschuss der Wissenschafts-Community. Aber Experimentieren ist auch immer eine Segelfahrt ins Ungewisse“. Er sitze gelegentlich in seinem Haus in Wattenscheid und schaue aus dem Fenster. Forschen hat auch heute noch mit Denken zu tun.
Professor Güntürkün forscht an einer sensiblen Stelle, an einer, wo es ganz am Ende um alles geht: den freien Willen. Ihm selbst liege aber zuvorderst lediglich viel daran, „die Myriaden von Fakten zu reduzieren“. An einer Grundlagenforschung, die aber sofort zu helfen vermag. „Psychotherapeuten verändern das Gehirn“, sagt er. Und Psychotherapeuten, die besser die Lernfähigkeiten des Hirns verstünden, können Patienten effizienter helfen.
Dieser charismatische Hochschullehrer, der so melodisch und anschaulich zu erklären vermag, was er auch schon in der „Sendung mit der Maus“ präsentiert hat, bricht jetzt sehr gut ausgestattet zu einer spannenden nächsten Fahrt ins Ungewisse auf.
Auszeichnungen für Onur Güntürkün
Preise (Auswahl): 1993 Gerhard Hess-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG); 1995 Preis der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung; 2006 Wilhelm-Wundt-Medaille der Deutschen Gesellschaft für Psychologie; 2006 Mitgliedschaft in der Leopoldina und 2007 großer Spezialpreis der TÜBITAK (das türkische Äquivalent zur DFG).
2012 Leibniz-Preis. Die DFG verleiht jährlich bis zu zehn Preise. Sie sollen die Arbeitsbedingungen herausragender Wissenschaftler verbessern und deren Forschungsmöglichkeiten erweitern.