Essen. . Disziplin war lange Zeit verpönt. Diese Eigenschaft klang einfach zu sehr nach Drill, Gleichschritt und Gehorsam. Dabei sind die Selbstbeherrschten unter uns erfolgreich, sowohl im beruflichen als auch im privaten Leben. Also nur Mut: zur eigenen Willenskraft.
Der Sekt ist kühl, der Himmel feuerwerkhell, der Moment glasklar: Veränderung liegt in der Luft. Endlich wird Rebekka sich mehr Zeit für die Familie nehmen, wird mehr Sport treiben, weniger Schokolade essen (genauer: gar keine!) – und jede Aufgabe gewissenhaft erledigen. Von ihrem tief- und ergreifenden Wandel durchdrungen, wendet sie sich an die Umstehenden. Die aber gerade damit beschäftigt sind, letzte Zigaretten auszudrücken oder letzte Biere zu trinken.
2013 wird alles anders!
Erinnert sich noch jemand an die Versprechen, die wir uns selbst in der Neujahrsnacht gaben? Gute Vorsätze sind wie Bleigießen für die Psyche, ein schönes Ritual – aber in Erfüllung gehen sie selten. Kein Wunder: Denn Selbstdisziplin ist uns eine äußerst uncoole Tugend. Dabei sind die Selbstbeherrschten nicht nur erfolgreicher als die Schludriane und Hitzköpfe, sondern auch gesünder und in ihren Beziehungen glücklicher. Ein Plädoyer für eine entspannte Neuentdeckung.
Die Arbeit an diesem Artikel begann mit einer To-Do-Liste. Ich legte sie vor drei Wochen an: 1. „Disziplin“-Text schreiben. 2. Steuererklärung. 3. Brief an Tante Hildegard. 4. Keller aufräumen (wo sind die Schlittschuhe?). 5. Stiefel zum Schuster bringen. 6. Auto zur Inspektion.
Nach Woche eins war der Keller tipptopp und die Kinder sausten als Kufenkönige übers Eis. In Woche zwei hatte ich die Schuhe weggebracht. Am Anfang von Woche drei bekam Tante Hildegard ihren Brief und der Steuerberater unsere Unterlagen und die Werkstatt das Auto. Am Abend des letzten Tages von Woche drei hatte ich zu viel Kaffee getrunken, meine Kinder angemotzt und eine ganze Tafel Traube-Nuss gegessen. Nur noch zwölf Stunden. Mit klopfendem Herzen – schaute ich den Tatort.
(ACHTUNG, TEXT NOCH ÜBERARBEITEN!!! HIER BEZUG ZUM THEMA HERSTELLEN – SCHLUFFIGER, ALSO NETTER KOMMISSAR, VERBISSENER TÄTER USW)
Bis ich also, endlich, den ersten Satz schrieb: Jedem Anfang wohnt ein Zaudern inne.
1. Morgenstund hat Gold im Mund: Der lange Marsch der Disziplin
Jedem Anfang wohnt ein Zaudern inne. Nichts scheint heute uncooler als Disziplin. Das Wort trägt eine Uniform mit glänzenden Knöpfen und schweren Stiefeln. Die Selbstbeherrschten nerven: mit ihrem Schaffensdrang, ihrer Pünktlichkeit, ihren aufgeräumten Schreibtischen. Kein Wunder, dass weniger Organisierte sich mit randständigem Rebellentum, mit kreativen Chaos brüsten, bloß um sich Neid nicht eingestehen zu müssen.
(DAS MIT DEM NEID EVENTUELL STREICHEN).
Wie aber kommt es, dass die Disziplin so in Verruf geraten ist? Als die Kirchen mit ihrem religiös motivierten Regelwerk zu Beginn der Industrialisierung an Einfluss verloren, begann die Zeit der „inneren“ Moral jenseits des Glaubens. Der Psycho-Bestseller des Jahres 1890 trug den Titel „Der Weg zum Erfolg durch eigene Kraft“. Den „Willen“ eines Menschen stellte man sich damals so vor wie eine Dampfmaschine, eisern, unaufhaltsam.
Mitte des 20. Jahrhunderts aber gerieten die Dinge aus dem Gleis. Disziplin, Drill und Gehorsam marschierten im Gleichschritt in die falsche Richtung. Kurz darauf jonglierten die 68er mit all diesen entspannten O-la-la-Begriffen: Laissez-faire, savoir-vivre. Es begann die „Sorge-dich-nicht-lebe“-Zeit. Contenance war passé – und superauthentisches Fühlen auch im Hellen keine Schande mehr.
Und heute? Ein Blick in die Ratgeberecke der Buchhandlung offenbart, dass wir eher geneigt sind, emotionale Intelligenz oder die Kunst der Intuition für Erfolgsgaranten zu halten als – harte Arbeit.
Das führt zu Widersprüchen und Paradoxien. So bricht beispielsweise jeder dritte die Bundeswehrausbildung nach wenigen Wochen ab; Lehrer und Fußballschiedsrichter klagen über jugendliche Unbeherrschtheiten aller Art. Andererseits zeigen immer mehr junge Menschen, zu welchen erstaunlichen, erschreckenden Disziplinleistungen sie fähig sind: Die Zahl der Magersüchtigen steigt, Burnout ist längst Volkssport. Ein ähnlicher Widerspruch findet sich in der Sexualität, Seismograph unserer Befindlichkeit: Einerseits haben wir uns zur Ausweitung der Lustzone auch hier deregulierte Märkte geschaffen. Andererseits stand im vergangenen Jahr mit „Shades of Grey“ ein Buch auf der Bestsellerliste, welches Erotik beschrieb als ein rigides Regel- und Straf-System. Augenfälliger noch wird unsere Zerrissenheit, wenn es um die Kindererziehung geht. Einerseits behandeln wir unsere Kinder wie gute Kumpels – im Notfall aber laden wir Supernannys aller Art in unsere Kinderzimmer und beten die Bücher des beinharten Bernhard Bueb nach.
Dabei wäre es so einfach: mehr Disziplin wagen! Jedenfalls ein wenig.
2. Erst die Arbeit, dann das Vergnügen: Die Verführungen des Alltags
Stellen Sie sich ein Kind vor, das allein in einem Raum ist – allein mit einem Marshmallow. Wird das Kind es schaffen, den Marshmallow nicht zu essen, wenn es dafür nach wenigen Minuten einen zweiten bekommt? Der Persönlichkeitspsychologe Walter Mischel ist mit diesem Test in die Geschichte eingegangen.
Zunächst fand er heraus, dass jene Kinder, die sich ablenkten, eher der Versuchung widerstanden. Später spürte er nach vielen, vielen Jahren die Marshmallow-Kinder noch einmal auf. Und siehe: Jene, die sich damals gut beherrschen konnten, hatten bessere Noten, bekamen bessere Jobs, lebten gesünder, führten stabilere Beziehungen. Weitere Überprüfungen ergaben, dass nichts die Noten mehr beeinflusst als die Selbstdisziplin – nicht einmal der Intelligenzquotient.
Die zweitberühmteste Studie zur Selbstdisziplin ist etwas weniger lecker; sie heißt in Forscherkreisen nur „das Schmutzige-Socken-Experiment“. Die australischen Wissenschaftler Meg Oaten und Ken Cheng hatten beobachtet, dass Studenten in ihren Disziplin-Tests zum Ende des Semesters hin schlechter abschnitten. Zugleich wurden sie auch im Alltag schludriger: Sie trieben keinen Sport, sie rauchten mehr und tranken mehr Kaffee, sie waren weniger ordentlich – und wuschen ihre Wäsche seltener, trugen also buchstäblich schmutzige Socken (PIZZAKARTONS, WÄSCHESTAPEL, GERÜCHE ETC.!!! VIELLEICHT HIER NOCH EINEN SCHRIFTSTELLER UM WAS SZENISCHES BITTEN – WOLF HAAS?!?). Die Schlampigkeit der Studenten lag aber nicht daran, dass sie mehr Zeit mit Lernen verbrachten – taten sie nämlich nicht. Ihr Problem war, dass zum Ende des Semesters ihre Willenskraft erlahmte wie ein müder Muskel.
Die Verführungs- und Ablenkungspotenziale unserer Zeit sind gewaltig. Selbst die Unbeherrschten unter uns dürfen sich deshalb als Meister der Willenskraft betrachten. Zwischen drei und vier Stunden täglich sind wir damit beschäftigt, Versuchungen zu widerstehen: Nicht Pommes zu essen, sondern Salat. Nicht zu schlafen, sondern zu arbeiten. Oder: Mitmenschen weder spontan zu schlagen noch zu küssen, jedenfalls nicht ungefragt. Dies hat der amerikanische Sozialpsychologe Roy Baumeister in Langzeitstudien nachgewiesen und im Buch „Die Macht der Disziplin“ beschrieben. Baumeister unterteilt verschiedene Kategorien, für die wir Willenskraft benötigen: neben der eben beschriebenen „Impulskontrolle“ zum Beispiel die Leistungskontrolle, die uns hilft, Aufgaben in einer Balance aus gründlich und zügig zu erledigen. Vertrackterweise geht die Rechnung fürs Beherrschtsein stets aufs selbe Konto. Baumeister: „Wir benutzen dieselbe Willenskraft, um mit dem frustrierenden Verkehr, verlockenden Süßigkeiten, nervigen Kollegen, unzufriedenen Chefs und quengelnden Kindern fertigzuwerden.“
Das führt zu Ermüdungserscheinungen. Menschen auf Diät, die vor einer Schale Kekse saßen, aber nur Obst essen durften, schnitten beim Willenstest schlechter ab als Menschen, die vorher ungehemmt die Kekse genossen. (DRINGEND RECHERCHIEREN: WELCHE KEKSE? DIE LECKEREN MIT SCHOKOLADE?) Baumeister beschreibt den Zustand derer, die ihre Willenskraft aufgebraucht haben, als „Ego-Erschöpfung“. Anzeichen dafür sind Überreaktionen aller Art: Wenn Sie Trauer, Freude, Wut regelrecht überschwemmen – sollten Sie vielleicht mal locker lassen.
3. Wo ein Wille ist, ist auch ein Ausweg: Sich selbst in den Griff kriegen
Wenn Willenskraft alles ist, aber alles unsere Willenskraft aufbraucht – was können wir tun? Drei Dinge sollten wir auf unserer To-Do-Liste notieren: 1. Zucker. 2. Training. 3. Gemeinschaft.
Zucker. „Wo keine Glukose ist“, schreibt Baumeister, „da ist auch kein Wille.“ Glukose wird in Neurotransmitter umgewandelt, die Botenstoffe im Gehirn. Baumeister fand heraus, dass Teilnehmer, die Zuckerhaltiges getrunken hatten, bei Willenstests besser abschnitten als andere, deren Getränke mit Süßstoff gesüßt worden waren. Viele weitere Tests belegten: Zucker im Blut hilft, sich zu beherrschen. Eine schlechte Nachricht für alle, die ihre Willenskraft für eine Diät nutzen wollen – wäre sie doch ausgerechnet durch Süßes zu stärken! (Wer seine Neurotransmitter auf Trab bringen will, sollte ohnehin nicht auf reinen Zucker setzen, der lässt den Blutzuckerspiegel Achterbahn fahren. Empfehlenswerter als die Tafel Traube-Nuss wären Früchte und Vollkornbrot.)
Training. Vermutlich hatten Meg Oaten und Ken Cheng einfach genug von diesen schmutzigen Socken. Jedenfalls luden sie ihre Studenten dazu ein, ihre Willenskraft zu trainieren. Eine Gruppe sollte ihre Fitness verbessern, eine andere ihre Lerngewohnheiten oder ihre Fähigkeit, mit Geld umzugehen. Erstaunlich: Das jeweilige Programm steigerte auch die Willenskraft in den Konzentrations-Übungen im Labor. Zudem beherrschten sich die Studenten auch im Alltag besser: Sie „rauchten und tranken weniger, räumten ihre Wohnung auf, erledigten den Abwasch und wuschen häufiger die Wäsche.“
Gemeinschaft. Über Jahrtausende haben religiöse Gemeinschaften wirksame Mechanismen zur Selbstdisziplin entwickelt. „Religiöse Menschen“, schreibt Roy Baumeister, „entwickeln mit geringerer Wahrscheinlichkeit ungesunde Angewohnheiten, sie trinken weniger Alkohol, pflegen ein weniger riskantes Sexualverhalten, nehmen weniger Drogen und rauchen seltener.“ (ABER WAS, WENN DIE SELBSTBEHERRSCHTEN EHER RELIGIÖS WERDEN? HENNE-EI-PROBLEM! NACHDENKEN!).
Gebet und Meditation aktivieren tatsächlich Hirnareale, die bei der Selbstregulation eine entscheidende Rolle spielen. Zudem scheint (neben der Gottesfurcht) das Auge der Gemeinschaft ein Motivationsturbo zu sein. Und der wirkt in Gemeinschaften aller Art: Ex-Alkoholiker bleiben eher trocken, wenn sie Selbsthilfegruppen besuchen. Frauen in Dritt-Welt-Ländern, die Mikrokredite aufgenommen hatten, sparten mehr, wenn sie sich in einer Gruppe austauschten. Und Studienteilnehmer, die an einen selbstbeherrschten Freund denken sollten, schnitten in Selbstbeherrschungstest besser ab als jene, die an befreundete Schluffis dachten.
4. Preis ohne Fleiß: Mit der Willensschwäche leben lernen
Wir können nur noch Vollkornbrot essen, wir können uns nur noch mit sportlichen Freunden treffen, unseren Willen in Gruppen trainieren – eines aber sollten wir, so Beherrschungs-Fachmann Roy Baumeister, auf gar keinen Fall tun: „Machen Sie sich keine Liste mit guten Vorsätzen fürs neue Jahr.“ Denn diese erfordere „übermenschlichen Willen“. Selbstdisziplin ist ein endliches Gut. Konzentrieren sie sich also auf EIN Ziel! Und vielleicht geht es Ihnen wie den australischen Studenten, die der Erfolg im Fitness-Studio motivierte, mal die Socken zu waschen.
Aber wenn Sie, wie Oscar Wilde, allem widerstehen können – außer der Versuchung? Dann sei dies ein Trost: Willensschwache Verzögerungstaktiker wie die Internet-Gurus Sascha Lobo und Kathrin Passig gehen sogar so weit, vor Selbstdisziplin zu warnen. Obwohl die beiden freiberuflichen Blogger und Autoren erklärtermaßen keine Deadline je einhalten, haben sie es geschafft, ein Buch zu schreiben: „Dinge geregelt kriegen ohne einen Funken Selbstdisziplin“. Disziplin sei immer dann gefährlich, meinen die beiden, wenn sie helfe, auch „bescheuerte Aufgaben durchzuhalten“ – denn so könne man leicht in einem Leben steckenbleiben, das „die eigene Intelligenz, die eigenen Gefühle“ beleidigt.
Von ihrer Insel der Saumseligen schicken sie uns eine Flaschenpost voll guten Rates: In der heutigen Dauerbeschallung sei Überforderung der Normalzustand. Deshalb sei das beherzte Aufschieben nicht das schlechteste Mittel, Wesentliches von Unwesentlichem zu trennen. Denn wer wirklich etwas wolle – der schreibe auch ein zweites oder drittes Mal.
Eine tröstliche Beobachtung. Wenn auch die Aufschieberitis mit bösen Symptomen wie langen Nächten und schlechtem Gewissen einhergeht, ein Gutes hat sie doch: Hätte ich diesen Text hier nicht so dringend schreiben müssen – hätte ich doch niemals freiwillig die Steuererklärung gemacht oder den Keller aufgeräumt.
Der Sekt wird kühl sein, der Himmel feuerwerkhell, der Moment glasklar. Veränderung wird in der Luft liegen. Denn was Rebekka sich vornehmen wird, ist: nichts. 2014 – bleibt alles anders.
(SO. MORGEN DEN TEXT NOCH AUFHÜBSCHEN!)