Bochum. . Millionen schalten jetzt wieder das RTL-Dschungelcamp ein - und fragen sich oft noch während der Sendung, warum sie nicht ausschalten. Auf den Spuren der Mechanismen, die „Ich bin ein Star - Holt mich hier raus!“ so erfolgreich machen.
Ein ganz normaler Fernsehabend im Januar in Bochum-Laer. Ein Paar hat sich bequem auf die Sitzlandschaft drapiert, das Licht des Flachbilds strahlt grell in den Raum. Der Bildschirm öffnet ein Fenster zur anderen Seite der Welt, dorthin, wo der Dschungel wuchert. Dort lässt gerade ein Kandidat einen Wurm in seinen Hals gleiten. „Da bleibt einem doch glatt das Essen im Hals stecken“, schimpft Hartmut W. und nimmt noch ein paar Erdnussflips aus der Tüte.
Wohl, um sich zu vergewissern, dass es doch noch klappt mit dem Feierabendsnack. Seine Frau Vera findet viel weniger dabei. Sagt sie zumindest. „Was du auch immer hast!“, regt sie sich ein bisschen auf. Im Laufe der nächsten Dreiviertelstunde aber verdreht sie mindestens zwei Mal die Augen und schüttelt sich ein paar Mal. Beide schauen zu, verspüren ein bisschen Widerwillen und sind dennoch fasziniert von Maden, Glitsch und Glibber, von Spinnen, Kakerlaken und dem Bad in Fischinnereien.
Warum Dschungelcamp? Gewohnheit? Sensationsgier?
Freitagabend war es wieder soweit, das Dschungelcamp ist gestartet in die mittlerweile siebte Staffel. Wie unserem Pärchen wird es in den kommenden Wochen Millionen Deutschen gehen: Wir ekeln uns und schalten dennoch ein, immer wieder, von Folge zu Folge. Die Frage ist nur: Warum? Gewohnheit? Sensationsgier? Woher stammt die Faszination am Abartigen? Wir spüren der Verführungskraft eines Fernsehphänomens nach, zwischen Ekel, Schaulust und Machtgefühl – eine Kombination, die nicht so schnell an Anziehungskraft verlieren wird.
Abflug ins Dschungelcamp
Neun Jahre Dschungelcamp in Schlaglichtern: Daniel Küblböck wird mit tausenden krabbelnden Kakerlaken überschüttet. Schnitt. Lorielle London verspeist einen pürierten Krokodilpenis. Schnitt. Brigitte Nielsen drückt noch einmal auf einen Känguruhoden, bevor sie ihn herunterschluckt. Schnitt und Schluss. Wenn sie jetzt noch nicht aufgehört haben zu lesen, dürfte Sie das Folgende interessieren.
"Ekel ist eine Grenzerfahrung"
„Der Ekel ist eine Grenzerfahrung“, sagt der Berliner Medienwissenschaftler Norbert Bolz. „Und Grenzerfahrungen faszinieren immer. Der Ekel scheint ein Bereich zu sein, wo man noch innovativ sein kann. Mit Sex oder Gewalt hingegen holt man niemanden mehr hinter dem Ofen hervor“, meint er. Tatsächlich wurde hier in den vergangenen Jahren eine Grenze überschritten. Das zeigte sich nicht nur am sensationellen Erfolg von Charlotte Roches „Feuchtgebieten“, das sich lustvoll mit Körperflüssigkeiten und Intimbehaarung beschäftigte. Es schlägt sich auch in den Theaterinszenierungen des Wieners Hermann Nitsch oder Werken der Briten Gilbert & George nieder, bei denen es mitunter reichlich blutig zur Sache geht. Und Kunststar Damien Hirst schreckt nicht vor Tierkadavern zurück.
Ich bin ein Star, holt mich hier raus!Tief in der Psyche verankert
Die Gesellschaft hat den Ekel offenbar als Mittel zur Unterhaltung entdeckt. Doch wie kommt es, dass ein zu Recht negativ besetztes Gefühl, das tief in unserer Psyche verankert ist, eine solch rasante Medienkarriere macht? Der Literaturwissenschaftler Winfried Menninghaus hat sich mit dem Ekel in der Kultur und der Psychoanalyse auseinandergesetzt, er sieht „im Ekelhaften ein Tabu, ja ein kulturelles Verbot“ und in der öffentlichen Bearbeitung des Tabus eine Reaktion, die sich mit der eines ungehorsamen Kindes vergleichen lässt. Was verboten ist, ist attraktiv.
Das vom Fernsehen vermittelte Schauspiel hat aber den unbestreitbaren Vorteil, dass nur der optische Eindruck in die heimischen Wohnzimmer übertragen wird. Was da im Dschungel stinkt und glibbert, nimmt man ja lediglich mit den Augen wahr. Man darf getrost annehmen, dass an jenem Tag in ferner Zukunft, an dem das Geruchsfernsehen Einzug hält und sich im Dschungelcamp der erste Kandidat über eine erbärmlich stinkende Kotzfrucht hermacht, das jähe Sterben eines Erfolgsformats beginnt.
Dschungelcamp ist andere Spielart des Nervenkitzels
Von der Couch, aus sicherer Distanz, freilich lassen sich solche Gefühle gut ertragen, weil sie höchstens noch durch den Anblick der zusammengekniffenen Gesichter und des Schauderns vermittelt werden. Das findet auch ein Paar wie Hartmut und Vera W. angenehm.
„Das ist ein ganz klassischer Effekt, den man früher ,Schiffbruch mit Zuschauern’ nannte“, sagt der Berliner Medienwissenschaftler Norbert Bolz. Was beim Betrachten eines Spielfilms den Nervenkitzel weckt, nämlich das Erleben einer Gefahr, ohne ihr selbst ausgesetzt zu sein, wirkt hier in übertragenem Sinne. Es ist eben nur eine andere Spielart des Nervenkitzels.
Und der funktioniert auch mit negativ besetzten Gefühlen, Fans von Horrorfilmen werden das auf Anhieb verstehen. „Da erleben wir den gleichen Widerspruch“, erklärt der Würzburger Medienpsychologe Frank Schwab. „Horrorfans schauen sich das an, fürchten sich die meiste Zeit, sie schwitzen und haben Herzrasen – sie schauen sich das beim nächsten Mal wieder an und finden das auch toll. Es gibt in der Medienpsychologie mehrere dieser Paradoxe, etwa auch, dass Frauen sich Filme anschauen, bei denen sie weinen und leiden – und am Ende sind sie vollends zufrieden damit. Oder jemand, der sich zum fünften Mal denselben Bond-Film anschaut und am Ende begeistert ist, wie spannend das war.“
Die Ekelprüfungen, denen die Kandidaten auch in dieser Staffel von „Ich bin ein Star – Holt mich hier raus!“ ausgesetzt werden, verführen aber noch vielfältiger. Denn unwillkürlich wird man sich die Frage stellen: Hätte ich das jetzt über mich gebracht? Hätte ich auch noch den letzten Stern aus der Spinnenhöhle gefischt? Damit verbunden ist also das Angebot des sozialen Abwärtsvergleichs, der Zuschauer darf sich über den Kandidaten erheben und sich einbilden, er hätte besser reagiert. Eine solche Chance erhält er sonst meist nur im Fußball, wo sich jeder Fan über die Lusche auf dem Platz erheben darf, die gerade den Elfmeter vergeigt, den langen Pass verpatzt oder gar ein Eigentor geschossen hat. Und das selbst, wenn der Fan im echten Leben nicht einmal eine halbe Runde um den Platz mit dem Spieler mithalten könnte.
Sieben Staffeln Dschungelcamp: Versagen, Missgeschicke, Leiden
Doch zurück in den Dschungel, denn dort stoßen wir auf ein weiteres Gefühl, das so eine Prüfung in uns auslösen kann und das fast allen Menschen vertraut ist: Schadenfreude. An Versagen, an Missgeschicken
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und an Leiden. Natürlich wird dies von den Moderatoren angestachelt, die sich über die Unzulänglichkeiten der Camp-Insassen lustig machen – und somit verantwortlich sind für das humoristisch-sarkastische Element der Show. „Die Schadenfreude wir hier ganz kräftig bedient, besonders, wenn der Kandidat vorher Fehlverhalten gezeigt hat“, sagt Frank Schwabe. „Dabei spielt auch immer eine moralische Aggression eine Rolle, es ist eine Form von sozialer Bestrafung.“
Hier kommt der Zuschauer ins Spiel, der durch Anrufe in den ersten Shows bestimmen kann, welcher Kandidat die nächste Ekelprüfung zu durchleiden hat. Und später in der Show entscheiden darf, wer das Camp verlassen muss. Oder darf. Je nachdem, ob der Kandidat die Grenze der Leidensfähigkeit erreicht hat.
Daumen heben und senken für die Dschungelcamp-"Stars"
Der Zuschauer selbst wird so zum Folterknecht – zumindest in einer abgemilderten, durchs Medium gefilterten Form. Oder er kann, wenn man es anders interpretiert, den Daumen heben und senken wie einst bei den Gladiatorenspielen, nur steht der Circus Maximus diesmal mitten in der freien Botanik. Die Teilnehmer sind, bis auf leichtere Verletzungen, immer noch lebendig wieder herausgekommen.
„Die Zuschauer-Interventionen sind bei den meisten Sendungen der letzten Jahre ein sehr geschickt eingesetztes Element, wo die Zuschauer praktisch in die Rolle des Gehilfen im Soziallabor aufrücken“, sagt Medienwissenschaftler Norbert Bolz. Und Soziallabor ist hier das Stichwort, das an einen nahen Verwandten des Dschungelcamps denken lässt: „Ich war immer der Meinung, dass die genialste Erfindung der Container bei ,Big Brother’ war. Und dass es jetzt eigentlich nur noch darum geht, Varianten herzustellen. Für mich ist das Dschungelcamp so ein Container, der eben noch in eine exotische Landschaft gesetzt wird – und wo das Soziallabor des Containers gemixt wird mit Ekel- und Abenteuerelementen.“
Natürlich lassen sich allein mit Ekelprüfungen nicht 60 Minuten und mehr Sendezeit pro Abend füllen – zumindest nicht so, dass es für das Nervenkostüm eines normalen Zuschauers noch zuträglich wäre. Nur vernachlässigt man angesichts solch reißerischer Elemente gern, dass das Dschungelcamp ja einen exorbitanten Big-Brother-Anteil hat. Und bei dem greifen wiederum ganz andere Mechanismen, etwa die Schaulust, also das innere Bedürfnis, einen heimlichen, lustvollen Blick auf andere Personen zu werfen. „Natürlich erhofft man sich, dass sich hier und dort eine Dame und ein Herr miteinander vergnügen und man das mit der Kamera erwischt“, sagt Schwab. Ein Blick in die Intimsphäre der Kandidaten bleibt also kaum aus, schon allein, weil sie im Camp nicht sonderlich viel Kleidung tragen. Und man gewinnt erstaunliche Einsichten, wenn etwa Nacktmodel Micaela Schäfer trotz ihres verschwindenden Textileinsatzes eher prüde rüberkommt. Oder man erfährt Dinge aus dem Privatleben der Kandidaten, über die sie bisher noch nie öffentlich gesprochen haben.
Tränen, Wutausbrüche, Verzweiflung im Dschungelcamp
Und dann entwickelt sich in einer Gruppe auch so etwas wie eine Sozialdynamik, an der sich zeigt: Ist jemand authentisch? Führt er die anderen Kandidaten hinters Licht? Ist er ein aufrechter Typ, der bereit ist, sich für die Gruppe einzusetzen? Oder zickt er (oder sie) herum bis es für keinen mehr erträglich ist? Natürlich ist das Dschungelcamp eine künstliche Umgebung, doch die Produzenten spielen auch mit den Gefühlen der Kandidaten – und haben so schon manchen von ihnen an den Rand eines Zusammenbruchs getrieben. Insofern erhält der Zuschauer spätestens nach einigen Folgen auch authentische Reaktionen, Tränen, Wutausbrüche, Verzweiflung und Aggression. Eine ganze Bandbreite von Gefühlen also, von denen unser reizarmer Alltag meist zu wenig zu liefern scheint. Und dieser Hunger nach Gefühlen wird hier gestillt.
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Wirklich herrlich wird das Dschungelcamp aber erst am nächsten Morgen im Büro, denn es ist ein sicherer Garant für einen Aufreger – und somit Anlass zum Quasseln mit den Kollegen. Wer statt Dschungelcamp lieber Arte einschaltet, wird am kommenden Montag im Büro vermutlich länger nach einem begeisterten Gesprächspartner Ausschau halten.
Der moralische Doppelwhopper
Tatsächlich entspinnen sich beim Mittagessen in der Kantine oft sogar Gespräche, die sich mit moralischen Fragen des Vorabends befassen. Werden wir durch solch eine Show also vielleicht sogar zu besseren Menschen? Nun, da sollte man nicht zu viel erwarten: „Dass es um moralische Probleme geht, das finden wir ja auch bei Shakespeare, in Macbeth oder Hamlet, nur da sind die komplexer gestrickt und kunstvoller ausgeführt. Hier ist es halt sehr simpel gehalten. Es ist eher der Doppelwhopper und nicht das französische Dreigängemenü. Dennoch ist beides Ernährung“, sagt Medienpsychologe Frank Schwab und schmunzelt. „Dass die Leute dadurch ihre Moral ändern, würde ich jetzt erstmal nicht annehmen.“
Dschungelcamp-ABC
Der größte Nervenkitzel erzielt die höchste Quote, das war schon immer so. Und auch wenn sich nach neun Jahren Dschungelcamp beim Fernsehzuschauer eine gewisse Abstumpfung eingestellt haben dürfte, heißt das noch lange nicht, dass das Interesse erlahmt.
Denn es wird anderen Sendern schwerfallen, gegen die Sendung ein ähnlich emotionsgeladenes Geschütz in Stellung zu bringen. Und viel mehr Gefühl geht zurzeit einfach nicht. „Die Prüfungen sind jetzt praktisch etabliert. Man kann da vielleicht noch etwas draufsetzen, aber dann stößt man an die Grenze, an der man beim Zuschauer eher eine Gegenwehr erzeugt“, so Schwab.
Das Kippen der Stimmung wird man also kaum riskieren. „Was eher interessant ist: Kriegt man Gruppen zusammen, die in ihrer Dynamik noch einmal einen besonderen Moment bieten.“ Mit einem ehemaligen Kaufhauserpresser, einem Transvestiten und einem abgewirtschafteten Filmstar stehen die Chancen diesmal ganz gut.
Zurück in Bochum-Laer, zurück auf der Couch. Gerade ist die Show zu Ende gegangen, Werbung flimmert übers Flatscreen. „Du“, fragt er, „wann fängt das morgen eigentlich an?“ „22 Uhr“, sagt sie. „Ich weiß aber noch nicht, ob ich das jetzt jeden Abend gucken will. Es war halt doch ein bisschen viel Gelaber.“