Gelsenkirchen. . Wie soll man einem Kind erklären, dass Mama oder Papa gestorben ist, dass sie sich nie wieder sehen werden? Nie wieder. Was heißt das? Und wie sagt man das Unsagbare? Wie Kinder mit dem Tod ihrer Liebsten umgehen. Eine Lebenshilfe.
Am Tag, als seine Mutter starb, ist Lars hingegangen und hat sie gekitzelt. „Mama war ganz kalt und vorher immer ganz warm“, sagt der Zehnjährige, der damals fünf war. „Sie hat nicht reagiert, und da hab’ ich gewusst, dass sie tot ist.“ Seine große Schwester wollte nicht mit ins Krankenhaus. Schon von dem Moment an nicht mehr, als sie ihr sagten: „Die Mama wird sterben.“ Denn Eva, sieben, hatte ein Bild im Kopf, wie auch immer es dahin gekommen war: Sie glaubte, wenn jemand stirbt, liege im Bett ein Skelett.
Sterben ist nichts für Kinder, finden viele Erwachsene. Wenn sie die kleinen Menschen also von Tod und Trauer fernhalten, dann meist, um sie zu schützen. Doch der Tod lässt sich nicht totschweigen. Er kriegt dann hässliche Fratzen. Und nur, wer ihn an sich heranlässt, kann ihn als Teil des Lebens kennen und verstehen lernen.
Auch interessant
Mehr als einmal hat die Trauerbegleiterin Mechthild Schroeter-Rupieper Kinder erlebt, die zum ersten Mal eine Urne sahen und die nachvollziehbare Frage stellten: „Ist da der Kopf drin?“ Ein kleiner Mensch, der Oma eben noch lebendig sieht und das nächste Mal nur noch ein Blümchen auf einem Haufen frischer Erde, ein Kind, aus dessen Leben die Großmutter also ohne Worte verschwindet – es hört ja nicht auf zu denken. Und was es denkt und grübelt, was es sich vorstellt und ausmalt, packt es in eine „Black Box“. Aus der dann eben Skelette kommen, so furchteinflößend wie die schwarzen Kleider, die die Leute plötzlich tragen. „Das Kind muss die Lücke mit Fantasie füllen“, sagt Schroeter-Rupieper.
Ein herzenswarmer Ort
Die gelernte Erzieherin hat jahrelange Erfahrung mit Trauernden, führt in Gelsenkirchen ein „Institut für Familientrauerbegleitung“. Das klingt etwas bürokratisch, ist aber ein herzenswarmer Ort, an dem Traurigkeit gelebt werden darf, wo niemand sagt: „Ist doch nicht so schlimm.“ Weil es eben „ganz feste schlimm“ ist, wenn ein Angehöriger stirbt. Nicht „heimgeht“ und auch nicht „einschläft“, betont Schroeter-Rupieper, denn „Tote gehen nicht mehr und wachen auch nicht mehr auf“. Sie pflegt ein klares Wort; Kinder brauchen Ehrlichkeit.
Fröhliche Kinder seien das, sagt sie, „die manchmal traurig sind“. Oder wütend, weil sie ihre Tränen geschluckt haben. Leandra zum Beispiel war zehn, als ihr Vater bei einem Motorradunfall ums Leben kam. „Man fühlt gar nichts in dem Moment“, sagt sie heute, wo sie 16 ist und weiß: Sie wollte es nicht wahrhaben. Leandra konnte nicht weinen, lange nicht, sie sammelte die Tränen in ihrem Bauch, verstaute und versteckte sie, bis sie Bauchschmerzen bekam. „Ich hatte Angst, wenn ich einmal weine, dann hört es nie mehr auf.“
Und immer hoffte sie leise, dass der Papa doch noch wiederkommt. „Vom Verstand her weiß man, dass das nicht so ist. Aber das Gefühl weiß es nicht mehr.“ Manchmal ist Leandras Tränenversteck explodiert, dann schimpfte sie mit sich selbst: „Wegen Kleinigkeiten weinst du, aber wegen Papa nicht.“ Niemand verstand, dass sie nur Mut machen wollte: der Mama, dem Bruder und vielleicht auch sich selbst.
In Gelsenkirchen haben sie es verstanden. Weil sie hier wissen, was sich als Lehrmeinung nur langsam durchsetzt: Kinder trauern anders. Aber man kann, muss ihnen das Trauern zutrauen. Sie müssen es fürs Leben lernen, wie das Lachen auch. Im Fühlen nämlich sind Kinder gut: Sie merken, wenn etwas nicht stimmt, sie sehen, dass Mama geweint hat. „Kinder trauern so viel, wie sie verstehen“, weiß Mechthild Schroeter-Rupieper.
Ein Junge am Sterbebett
Im Alter unter fünf Jahren etwa kommt „Nicht wiederkommen“ in ihrer Lebenserfahrung noch gar nicht vor. Papa kehrt von der Arbeit zurück, Oma aus dem Urlaub und alles eben immer wieder. Obwohl die Kinder durchaus kleine Verluste kennen, die sich groß anfühlen: das verlorene Stofftier. Das zerbrochene Spielzeug. Das Alleinsein, wenn die Eltern abends das Licht ausschalten. Mechthild Schroeter-Rupieper hat ein Foto aufbewahrt: Es zeigt einen kleinen Jungen am Sterbebett seiner Mutter, mit todtraurigem Gesicht – weil er keine Schokolade bekommt. „Das hat er bereits gelernt.“
In der Grundschule lernen Kinder, dass alle Menschen sterben müssen – aber was heißt das schon? Emma, die ihre Mutter mit neun verlor, hat ein Bild gemalt, als sie begriff: „Das leere Bett neben Papa und der leere Stuhl“ – der Tisch, an dem nur noch Papa und Emma sitzen, ist schwarz. Kinder trauern im Jetzt. Abends auf der Bettkante, wo keine Mutter mehr eine Geschichte vorliest. Mittags in der Küche, wo keine Mama mehr kocht. Samstags auf dem Fußballplatz, wo kein Papa mehr da ist, der einen anfeuert.
„Nie wieder“ ist sehr abstrakt
Als Lars in diesem Sommer hörte, dass seine Kusine gestorben war, „hab ich geweint, dann hab ich Fußball gespielt, dann hab ich wieder geweint, und dann hab ich mit Lego gespielt“. Kinder vermissen die Verstorbenen dort, wo sie immer dabei waren, nicht dort, wo sie es nie waren und nie wieder sein werden: „Nie wieder“ ist abstrakt, sie wissen noch nichts von der Endlichkeit.
Aber sie können sie erahnen, wenn sie Abschied nehmen dürfen. Sehen, begreifen, dass ein Mensch nicht mehr atmet, dass er kalt wird, dass er „Flecken kriegt“, wie Lars bei seiner Mama gesehen hat. „Opa ist es wert“, findet Mechthild Schroeter-Rupieper, „auch noch tot besucht zu werden“ – gern geht sie dann mit. Oma sieht schlimm aus, sagen die Eltern? „Und was ist mit den Monstern?“ Denn eigentlich nicht auszudenken, was ein Kind sieht in Fernsehen, Zeitung und zu Halloween – und dann soll es einen toten Angehörigen nicht noch einmal streicheln dürfen?
Aber viele Erwachsene fürchten sich ja selbst davor. Haben Angst vor den eigenen Tränen und noch mehr vor denen ihres Kindes. Experten wissen: Für Erwachsene ist Trauer wie ein Ozean. Ein Tränenmeer, das sie durchschwimmen müssen, das sich anfühlt, als würde es nie aufhören. Für Kinder ist Trauer eine Pfütze. Und noch eine und noch eine. Sie fallen hinein, sie stehen wieder auf, sie weinen und lachen auch wieder. Trauern Kinder deshalb besser?
Mancher sehnt sich nach der Einfachheit, der Klarheit, dem Mut, Fragen zu stellen, womit Kinder dem Tod begegnen. Doch letztlich, sagt auch Mechthild Schroeter-Rupieper, sind Trauer-Techniken alters-unabhängig: „Fühlen, sachlich denken, handeln oder verdrängen.“ Und wenn sie nicht einseitig sind, „ist nichts davon falsch“. Ein kleiner Mensch, der vor Kummer Bauchweh kriegt, wird später vielleicht ein Kandidat für Magengeschwüre. Und ein großer, der seine Tränen versteckt, erzieht vielleicht einen kleinen, der Gefühlen nicht vertraut.
Mit dem Kind, mit seiner Lebenserfahrung und der mit dem Tod, wächst auch seine Trauer. Weil es begreift. „Beim zweiten Menschen, den man sehr doll lieb gehabt hat“, hat Eva bei ihrer Kusine gemerkt, „ist es anders als vorher.“ Hat nicht Emma sogar um ihre Meerschweinchen mehr Tränen geweint als um ihre Mutter? „Man versteht besser, was Totsein bedeutet, wenn man älter ist“, sagt Eva. Sie ist jetzt zwölf.
Auch Kinder schweigen
Man versteht allerdings auch besser, wenn man darüber reden kann – wie in der Trauergruppe für Kinder in Gelsenkirchen, wo man weinen kann oder es lassen, wo andere dasselbe empfinden und jeder spürt: Wir ticken alle ähnlich und also nicht falsch. Erwachsene reden ja manchmal gar nicht, weil sie nicht können oder das Kind nicht überfordern wollen. Aber auch Kinder schweigen. Leandra hat Jahre gebraucht, bis sie ihrer Freundin ihr Herz ausschütten konnte – und endlich die Tränen gleich mit. Ein Mädchen aus der Schule hat Emma einmal gefragt: „Hey, vermisst du die etwa noch?“ Emma würde gern erzählen, aber was soll sie sagen: „Hey, lass mal reden?“ Sie findet das doof. „Ich will kein Mitleid.“
Mechthild Schroeter-Rupieper hat ein „Hausbuch für Familien in Zeiten der Trauer“ geschrieben, es heißt „Für immer anders“. Das trifft es wohl. Die Kinder, die zu ihr kommen, werden alle ohne Papa oder ohne Mama groß, das macht früh lebenstüchtige Menschen aus ihnen, nachdenkliche und solche, die alle dasselbe vermissen: ein Leben als Familie. Leandra fehlt das gemeinsame Abendessen. Eva, wie sie abends zu viert in Lars’ Hängematte hockten, lasen und spielten. Emma, wie Mama es gemütlich machte zu Hause, wie sie alle zusammen etwas unternahmen, „aber das wäre auch langweilig zu zweit“.
Rituale der Trennung
Allesamt Rituale, die auch Scheidungskinder nicht mehr haben. Für deren Vater oder Mutter, wenn sie ausziehen, es keine Abschiedsfeier gibt, keine Kerze und keinen freien Schultag. „Trotzdem wäre mir lieber“, sagt Eva, „meine Eltern wären geschieden, dann könnte ich die Mama noch sehen. Ich glaube, Trennung macht auch traurig, nur anders.“ Aber: Auch Trennungskinder trauern.
Wobei auch Evas Mutter, die von Emma und der Papa von Leandra nicht wirklich fort sind. Sie sind noch Teil ihres Lebens, nicht nur in der Erinnerung. Für Lars ist Mama in einer „gleichen Welt, nur aus Wolken. Und ohne Waffen“, die mochte Mama nicht. Neulich hat der Zehnjährige im Schlaf mit ihr geredet. „Ich hab’ das jetzt schon viermal geträumt.“ Eva auch: Bei ihr saß die Mutter auf Nachbars Sofa und hat geschimpft, dass ihre Tochter so spät noch auf war. Die denkt, die Mama sei „in einer zweiten Welt“, wo auch der Opa ist und die Kusine. Leandra glaubt, dass die Seelen in den Himmel kommen, „also jedenfalls würde ich mir das wünschen . . . Es ist wohl eher Wünschen als Glauben.“ Wobei ihr Eva helfen kann: „Manchmal denke ich, Wünsche gehen nach dem Tod in Erfüllung.“
Emma hat ein Bild von ihrer Mutter gemalt
Und Emma: Die hat damals ein Bild gemalt, ein Haus für Mama, mit lauter praktischen Maschinen und vielen Farben. Und sie hat einen Brief geschrieben, auf gelbem Mäusepapier. „Sendlich hoffe ich, das ich dich eines Tages wieder treffe und dass dann alle wieder glücklich wehren. Manchmal glaube ich fest daran, das Gott meine Gebete erhört. Aber oft denke ich auch, das dass mit ihm garnicht stimmt. Sehr dolle hoffe ich dass der Brief bei dir oben in den Wolken ankommt und dass es dich wirklich noch irgend wo und irgend wie gibt. P.S. Schreib mir auch mal!!!!!!!!“
Heute, mit 14, ist Emma ihre Himmelspost ein bisschen peinlich. Sie hat einen neuen Brief geschrieben. „Natürlich vermisse ich dich noch und denke an dich . . . Aber ich fühle mich anders als damals. Ich hab mich so hilflos gefühlt, dass du nicht mehr da warst, es ist irgendwie unbeschreiblich. Aber heute muss ich sagen, dass ich mein Leben im Griff habe. Ich habe mich wohl einfach daran gewöhnt, dass du nicht mehr da bist . . . Ich weiß, dass du niemals wieder kommen wirst. Aber wenn man wirklich in das Reich Gottes kommt, hoffe ich fest, dich dort zu sehen, Mama . . . Wer weiß, vielleicht hast du jetzt schon fünf Jahre auf mich herabgeschaut. Egal wie, in meinem Herzen bist du immer da.“ Manchmal hat Emma dabei ihre Stimme im Ohr. „Aber ich bin mir nicht mehr sicher, vielleicht war sie anders.“
Die Mutter starb am Geburtstag
Eva ist ihrer Mutter nie böse gewesen, weil sie ausgerechnet an ihrem Geburtstag gestorben ist. Aber Lars war enttäuscht: weil es nicht sein Geburtstag war. Denn die Geschwister glauben fest, dass die Sache Absicht war. „Mama hat sich einen Familientag ausgesucht“, sagt Eva. Und eigentlich ist das gut: „Ich kann an dem Tag gar nicht so richtig traurig sein, weil es eben mein Geburtstag ist.“