Tel Aviv. . Eine Pilgerreise auf dem Jesusweg in Israel, wo man heute noch spüren und erleben kann, wie es vor 2000 Jahren im Heiligen Land gewesen sein mag. Heute kommen hier jährlich 5000 Touristen entlang – und es gibt bereits eine Konkurrenzroute.
Es ist nicht der Jakobsweg, auch nicht die Via Francigena. Dafür wandle ich in den größten Fußspuren, die je ein Mensch hinterlassen hat. Der Jesus Trail führt auf sechzig Kilometern quer durch Galiläa, von Nazareth zum See Genezareth. Hier hat Jesus Christus sein Leben verbracht und Wunder gewirkt. Urkunden oder Pilgerpässe gibt es nicht, es werden keine Sünden vergeben. Aber ich bin auch nicht katholisch. Was hat mich also zu dieser Pilgerreise getrieben? Zu der Idee, ganz alleine zu wandern, in einem Land, aus dem uns meist Nachrichten von Selbstmordattentaten und Raketenabschüssen erreichen. Ich gehe nicht einmal alleine ins Kino und wandern tue ich höchstens zum Supermarkt. Aber das ist eben der Reiz: Ängste und Grenzen zu überwinden, Einsamkeit zu erleben.
„Und nachdem sie alles […] vollbracht hatten, kehrten sie zurück nach Galiläa in ihre Stadt Nazareth. Das Kindlein aber wuchs und wurde stark […].“ (Luk. 2,39-40)
Ich beginne meine Reise dort, wo Jesus seine Kindheit verbracht hat. Nazareth ist heute die größte arabische Stadt Israels. Der Muezzin ruft, Kaffeeduft liegt in der Luft, auf dem Markt tummeln sich Frauen mit Kopftüchern. Nazareths berühmteste Sehenswürdigkeit ist aber christlich: Die Verkündigungskirche soll auf dem Platz stehen, wo einst Marias Haus war. Hier hat der Erzengel Gabriel Jesu Geburt verkündet.
Ich fliehe vor den inbrünstig betenden Christen und er-klimme die Stufen, die aus der Stadt führen. Schon nach einigen hundert Metern habe ich mich verlaufen. Bis ich aus der Beschilderung schlau werde, vergehen Stunden. Das Lied „I’m Walking“ ertönt in einer Endlosschleife in meinem Kopf, unterbrochen vom lauten „Shalom“, mit dem die Kinder in den Dörfern grüßen. Um die „Interaktion mit den Einheimischen“ zu fördern, führt der Weg durch jüdische, christliche und muslimische Gemeinden. Die Pilger sollen „so wandern wie Jesus“, hat Initiator David Landis erklärt. Das Konzept geht auf: Ich kann mich nicht entscheiden, ob meine Füße oder meine Schultern unter dem Gewicht des Rucksacks mehr schmerzen. Vielleicht ist das ja eine Art, Jesus näher zu kommen. So schleppe ich mich mit letzter Kraft zum ersten Etappenziel: Kana.
Im Hotel begegnet mir Elke Werner. Die pensionierte Lehrerin aus Graz hat als Freiwillige bei Ausgrabungen in Magdala, der Heimat von Maria Magdalena, geholfen. Ihre „Freude darüber, Katholikin zu sein“, strahlt aus ihrem Gesicht, aus ihrer ganzen Körperhaltung. „Wenn ich daran denke, dass die Mutter Gottes hier zu Jesus gesagt hat, er soll Wasser in Wein verwandeln, bin ich ganz ergriffen“, sagt sie mit Blick auf die Hochzeitskirche. Ein wenig beneide ich sie um ihr entrücktes Lächeln.
„Er kam nun wieder nach Kana in Galiläa, wo er das Wasser zu Wein gemacht hatte.“ (Joh. 4,46)
Spirituell ist die Reise noch nicht, dafür aber kulturell erhellend. Und das ist doch auch im Sinne Jesu: Liebe deinen Nächsten. Suad Bellan scheint dieses Postulat zu leben. Die arabische Christin betreibt die einzige Herberge im Ort. Ihr Leben ist mit der Hochzeitskirche verbunden: In ihr wurde sie getauft, hier ging sie zur Kommunion, hier hat sie geheiratet. Galiläa stehe unter dem „Segen Jesu“, meint sie. Deshalb seien die Probleme Israels, der Konflikt zwischen Juden und Arabern, weit weg. „Alle Menschen sind gleich. Gott liebt uns alle.“
Suads Worte hallen in mir nach, als ich losmarschiere und nichts als das Rauschen des Windes in den Ohren habe. Ich habe meinen Rhythmus gefunden und erreiche schnell das Highlight des Tages, die alte Römerstraße. Als wichtigste Verbindung zwischen Nazareth und dem See Genezareth muss auch Jesus sie benutzt haben. Deshalb sind die Pilger hier immer „super ergriffen“, hat Mark Gurman erzählt. Der 23-jährige Amerikaner führt als Freiwilliger manchmal Gruppen durch das Gelände. Die Straße ist ein Trümmerfeld. Vielleicht will sich deshalb kein Gefühl von Ehrfurcht bei mir einstellen. Vielleicht liegt es auch an den Autos, die auf der Schnellstraße vorbeirasen. Ich setze mich hin und warte, versuche mir vorzustellen, wie es vor 2000 Jahren war. Aber da ist nichts. Das einzige, das mich berührt, ist die Natur: wie diese zarten Blümchen jahrhundertelang ihren Platz zwischen dicken Felsen gefunden haben. Darin steckt wahrlich etwas Göttliches.
„Und er zog umher in ganz Galiläa, […] predigte das Evangelium vom Reich und heilte jede Krankheit und jedes Gebrechen im Volke.“ (Matt. 4,23)
Die Nacht habe ich im orthodoxen Kibbuz Lavi verbracht. Ins Hotel kann ich erst nach Sonnenuntergang einchecken, denn am Sabbat darf nicht geschrieben werden. Auch Strom und Autos sind zwischen Freitag- und Samstagabend verboten. Lange Röcke, Kopftücher und große schwarze Hüte dominieren das Bild. Das Leben ist sozialistisch geprägt: Jeder hat dasselbe Einkommen, aber nicht jeder darf Teil der Gemeinschaft werden. „Wir wollen kein Auffangbecken für gescheiterte Existenzen sein“, erklärt Henry Stern. Der 88-Jährige gehört zur ersten Generation von Siedlern, die 1949 ins Land kamen. Mit den arabischen Nachbarn lebe man friedlich zusammen, Sicherheitspersonal und Bunker gehören dennoch zum Alltag. „Wir müssen immer wachsam sein“, sagt Stern.
Hellwach bin auch ich, als das hüfthohe Gestrüpp auf meinem Weg langsam von Geröll abgelöst wird. Ich stolpere vorwärts, die „Hörner von Hattin“ hinauf. Die Landschaft sieht fast aus wie zuhause, mit all den Kühen, die friedlich auf der Wiese grasen. Wenn ich jetzt stürze, dauert es wahrscheinlich Tage bis man mich findet. Von den 5000 Touristen, die hier im letzten Jahr durchgekommen sein sollen, ist jedenfalls nicht viel zu sehen. Auf dem ganzen Weg ist mir noch kein Mensch begegnet. Die Sonne brennt unbarmherzig, die Luft steht und meine Füße scheinen auf die doppelte Größe angeschwollen zu sein.
Ich raste im Schatten eines Olivenbaums und denke zum ersten Mal: Hier könnte auch Jesus Rast gemacht haben. Ganz so alt ist der Baum wahrscheinlich nicht, aber so könnte es auch vor 2000 Jahren ausgesehen haben. Olivenbäume, wohin man blickt.
„Als er aber die Volksmenge sah, stieg er auf den Berg […]. Und er tat seinen Mund auf, lehrte sie und sprach: Selig sind…“ (Matt. 5,1-3)
Der Tag beginnt mit einer Niederlage. Auf einem 20 Zentimeter schmalen Felssims soll ich mich am Berg Arbel entlang ins Tal tasten. Mein Herz pocht wild. Ich habe leichte Höhenangst. Trotzdem will ich es versuchen. Ich sage mir laut: Du schaffst das! Ich schaffe es nicht. Angeblich klettern hier sogar Kinder und Rentner hinunter. Ohne mich. Als ich umdrehe, fühle ich mich furchtbar. Ist es nicht der Sinn einer Pilgerreise, über sich selbst hinauszuwachsen?
Der (Um-)Weg ist das Ziel, sage ich mir wie ein Mantra. Trotzdem kann ich an nichts anderes mehr denken als an Tabgha. Dort wartet der See Genezareth auf meine geschundenen Füße. „Die Leute wollen mit ihren eigenen Füßen das gelobte Land fühlen“, hat mir Sara Shavit, meine Gastgeberin in Arbel, gesagt. Meine Füße haben vom gelobten Land genug. Sara versteht das. Bevor die Pilger zur letzten Etappe aufbrechen, laden sie ihre Probleme bei ihr ab. Dabei hat die gebürtige Rumänin selbst mit der Vergangenheit zu kämpfen: Ihre Familie war in Auschwitz, nur ihre Eltern haben überlebt.
Saras Geschichte und der Duft von Orangenblüten begleiten mich. Ich bin ganz in mich gekehrt als ich in der Brotvermehrungskirche ankomme. Doch an dem Ort, wo Jesus mit fünf Broten und zwei Fischen eine Menschenmenge gespeist haben soll, gibt es kein Innehalten. Eine amerikanische Touristengruppe wird von Japanern abgelöst, die im Eiltempo durch die Kirche gescheucht werden. In der Primatskapelle am Seeufer, wo Jesus den geistlichen Primat des Apostels Petrus bestätigte, ist es noch schlimmer. Besucher posieren hier für ihre Schnappschüsse sogar hinter dem Altar. Nur ich bin selig: meine Füße werden vom See umspült. Endlich. Bis Kapernaum, dem einstigen Wohnort Jesu, sind es noch zwei Kilometer. Aber ich spüre – den Berg der Seligpreisung im Rücken – dass ich hier und jetzt angekommen bin.