Debbie Harry bringt ihre alte Band und eine Menge Würde mit. Auf dem neuen Album „Panic Of Girls“ sind die Grenzgänger zwischhen New Wave und Disco sehr konsequent mit der Zeit gegangen. Ein Gespräch über Alter und Zeitgeist.
Deborah Harry ist die Popikone, die Madonna und Lady Gaga auf Erfolgsfährten lockte. Als Frontfrau von Blondie verbindet sie seit mehr als 35 Jahren die Anmutungen von Hollywood und Punk, Glamour und Arbeiterklasse, schwülstige Discosounds und schnörkellose Gitarrenakkorde. Zum neuen Album, „Panic Of Girls“, redete die 65-Jährige mit Michael Loesl über ihre Leitbildrolle.
Mrs Harry, kennen Sie die Bedeutung Ihres Vornamens Deborah?
Harry: Soweit ich weiß, steht mein Vorname im Hebräischen für Biene, der ja eine gewisse Emsigkeit nachgesagt wird. Zumindest in meiner Lebensrealität spielte die nicht immer eine übergeordnete Rolle. Ich hatte meine Momente der Dekadenz.
Die biblische Bedeutung von Deborah ist Richterin. Ein Freund fragte mich, ob ich vor diesem Interview keine Angst habe, weil er Ihren Blick „autoritär“ findet.
Wirklich? Na ja, es kann auch schmeichelhaft sein, von einem Mann eine gewisse Autorität zugesprochen zu bekommen. Sagen Sie ihm doch, dass Sie mir eine Augenbinde aufsetzten und ich bereit war, sie zu tragen. Aber im Ernst, ich finde seine Beobachtung ganz schön lächerlich. Ich bin mein Leben lang vor allem eine Gauklerin oder Blenderin gewesen. Ich tat häufig so, als ob ich etwas war. Manchmal so überzeugend, bis ich es schließlich wirklich war.
Das Make-up, die Marilyn-Monroe-Frisur, Hollywood?
Das Zünden der weiblichen Entschlusskraft im Popmarkt! Als ich jung war, glaubte ich an meine Ideen, bis sie real wurden, obwohl ich nicht wusste, wer ich war. Vermutlich war ich auf der Suche nach mir selbst. Früher war ich altklug.
Und heute?
Heute bin ich alt und klüger.
Wie hat Sie das verändert?
Meine Selbstakzeptanz hat zugenommen, und damit kann ich die Liebe einer anderen Person besser akzeptieren. Als junges Ding war ich viel zu gehemmt zum Empfangen wirklicher Liebe, weil ich mich selbst nicht verstand. Wünsche und Sehnsüchte packte ich in meine Texte. Heute kann ich viel mehr Wärme und Liebe vermitteln.
Verklären Sie die Vergangenheit deswegen nicht im neuen Blondie-Album?
Die Impulsivität des Moments liegt mir mehr als der Gedanke an früher. Ich mag nicht ans Damals denken, weil darin oft die Gefahr des Glorifizierens von wenig Glorreichem lauert.
„Heart Of Glass“ wird in Hollywoodfilmen gerne zum Illustrieren der Disco-Ära genutzt.
Wir hatten es nicht als Sinnbild einer Dekade geschrieben. Wir wollten viel mehr die Ästhetik von Kraftwerk mit der Disco-Ära verbinden.
Wie haben Sie die angesagten Clubs jener Ära wie das Studio 54 erlebt?
Ausschweifend, bisexuell und im eigentlichen Wortsinn „gay“. Wir waren alle kleine Königinnen und Könige, Bohemiens. Wir trotzten damit der finanziellen Dürre, die die Arbeiterklasse nach dem Vietnamkrieg erlebte, vor allem in New York. Alle waren gleichgestellt, weil keiner Geld hatte. Als Bohemiens konnten wir uns von der Masse lösen, zu der wir alle gehörten. Und mit Disco konnten schwule Männer plötzlich ihren Sex, für den sie vorher schikaniert worden waren, auf der Tanzfläche ausleben. Farbige Frauen landeten Hits, und Blondie verkaufte plötzlich Millionen Platten.
Die verkauft mittlerweile nur noch Lady Gaga.
Oh bitte! Sie wollen mich doch wohl nicht dazu bringen, andere Entertainer zu kommentieren.
Sind Sie die Leitmotivrolle für alle widerborstigen Kultur-Blondinen leid?
Wenn ich mir jemals eine solche Rolle zugesprochen hätte, wäre ich sie sicher leid. In dem Moment, wenn man von Yoga zu Drogen und wieder zurück zu Yoga wechselt, will man keine Rolle mehr spielen, dann ist alles echt und real. Ich finde viele der angesagten Entertainerinnen interessant. Aber ich bin vor allem daran interessiert, ob sie ihre Würde bewahren können.
Ihre Würde manifestiert sich auf dem neuen Blondie-Album durch grenzenlosen Modernismus.
Alles andere wäre ja auch Nostalgie. Blondie ist nie dem Kraftwerk-Syndrom anheimgefallen, das die einstigen Technologie-Pioniere von der technologischen Entwicklung überrollen ließ. Natürlich sind wir am Ende des Tages auch geschäftlich orientierte Unterhalter. Aber ich könnte jetzt nicht mehr die unverletzbare Zicke auf der Bühne geben.
Vielleicht gelten Sie gerade deshalb als Ikone.
Ich bin aber kein eingefrorener Charakter. Zur Ikone will ich mich gar nicht eignen, die Bezeichnung setzt zu viel Statik voraus.
Immerhin ist Blondie in die Rock’n’Roll Hall Of Fame aufgenommen worden.
Okay, wir touren immer noch, spielen in ausverkauften Hallen und haben 40 Millionen Platten verkauft. Trotzdem bringen wir unser neues Album mit einem Jahr Verspätung raus, weil die großen Labels nicht verstehen können, dass wir kein zweites „Heart Of Glass“ schreiben wollen. Vielleicht habe ich doch etwas von einer Biene, weil ich lieber emsig Umschau nach Neuerungen halte, als in Reminiszenzen zu schwelgen.
Welche ist die aktuellste Neuerung in Ihrem Leben?
Die Erkenntnis, dass Humor Ausdruck von Liebe ist.
- Blondie: Panic Of Girls, Parlophone/EMI. Bisher sind keine Deutschlandkonzerte geplant. 14. Juli Amsterdam, Paradiso, 15. Juli, Zwarte Cross Festival, Lichtenvoorde, NL